Das Schweigen
und das Schreien aka
Call and Response

08. März 2017 — Demokratisierung

I.
Das also ist dein Zimmer. Ein Raum, den du dir geschaffen hast, vier Wände, die dir allein gehören. Hier bringst du dich in Stellung, während die Geschichte sich (präzise?) wiederholt, beschreibst den Raum als weißes Blatt A4 Papier, schreibst über den Rand und weiter, durch die Tür, über die Treppe, die Straße hinunter, die Wände entlang, hinaus und weiter, und kommst doch immer wiederher zurück. Trotz all der ungebetenen Gäste, die hier, in deinem Zimmer, herumgammeln, der Zwischenrufe, der Unterbrechungen, der Kakophonie der Stimmen, dem Schreien und Schlagen der Gegenstände. Etwas arbeitet, etwas kommt nicht zum Stillstand. Wenn sich die Einstellungen in der Realität nicht ändern (ein täglicher Kampf), kann Frau auch die fiktiven Geschichten nicht ändern (sprich dein tägliches Textgebet). Wir haben nicht alle dasselbe Leben, wir sind nicht alle gleich, wir haben unterschiedliche Bildungsgrade, Berufe, Geschlechter, Lebenspositionen etcetera. Schließlich kennen wir uns im eigenen Leben am besten aus. Wir Frauen sind das am häufigsten abgehandelte Tier des Universums1 (Ist das so?), wir werden häufig mit (kleinen) Tieren verglichen oder als diese bezeichnet. Kätzchen, Mäuschen, Häschen, Vögelchen etcetera. Das Problem der großen feministischen Bewegungen ist, dass sie davon ausgehen, dass ihre Lebenswirklichkeiten für alle gelten, also für ein Wir. (Bewohnt der Feminismus das WIR? Als Haustier?). Wir haben das Recht, die Einzigen zu sein, die definieren, wer wir sind. (Ist das so?) Uns obliegt die Entscheidung, Wahrheit zu vermitteln, Wirklichkeit und Wahrheit umzuschreiben, undoder uns einzureihen in die Auftragskette des Patriarchats. (Ist das jetzt Hol- oder Bringschuld?) Women and fiction remain, so far as I am concerned, unsolved problems. 2 Etwas arbeitet, etwas kommt nicht zum Stillstand. Das Epizentrum schleicht uns nach, der Boden schwankt, alles scheint zerbrechlich, als könnte es jeden Moment kaputtgehen, die Bilder verdoppeln sich. Die Wiederholung ist zugleich das Gegenteil. Alles geschieht gleichzeitig, sprich: This war won’t end in my lifetime. 3

II.
Call and response: Wir sollen (das Mantra) nachsprechen, die Stimme der Meditations-DVD spricht vor, call and response, wir sollen die Augen schließen, wir sollen gleichzeitig hören und singen. Die Stimme sagt uns, dass wir sagen sollen: I am awake and alert. Die Stimme sagt uns, dass wir uns fragen sollen: Welche Version meines Körpers bin ich heute? Welche Version von mir bin ich heute? Wo tut es weh? (Überall, überall.) Wir wiederholen: I am awake and alert, awake and alert, wiederholen wir wieder und wieder und wieder und spüren, wie uns eine warme Welle aus Zorn flutet.
Wir sind vielleicht elf Jahre alt, auf unserem täglichen Schulweg lesen wir in der S-Bahn, und bemerken erst spät, dass ein Mann auf dem Sitz gegenüber, direkt vor uns, onaniert. Was wir noch nicht wissen: Diese und ähnliche Begebenheiten werden sich – mit verschiedenen Männern verschiedener Altersgruppen in verschiedenen Anzügen und Casual Outfits – im Laufe unserer Pubertät und unseres weiteren Lebens so oft wiederholen, dass wir uns irgendwann nicht mehr sicher sind, ob vielleicht WIR es sind, die pervers sind.
Wir sind die Assistentin des Regisseurs, der eine Vergewaltigungsszene probt und uns erklärt: Jeder Mann träume davon, eine Frau zu vergewaltigen.
Wir sind der Radius unserer Wut im Klassenkampf der Dinge.
Wir sind das ungemachte Bett einer Künstlerin, das für 3,2 Millionen Euro versteigert wird.
Wir sind Fat Femme und Instagram Star, wir brechen Stereotype auf, erobern das Eigentum an unserem Körper zurück, unser Körper soll nicht mehr dem Blick der anderen gerecht werden müssen, der gesellschaftlichen Norm (Welche Norm?), wir sind die dritte Welle des Feminismus, wir de- und resexualisieren unsere Körper, holen die Macht über unsere Körper zurück.
Wir sind wie Micky Maus, keiner weiß, was unter unserem Anzug steckt.
Wir erzeugen Genitalpanik, wir zwängen uns durch die engen Sitzreihen eines Pornokinos und tragen dabei Jeans, aus denen im Schritt ein großes Loch ausgeschnitten ist, und wir fordern die Zuschauer auf, uns anzufassen.
Wir beobachten das Vorspiegeln von Authentizität unter größtmöglicher Anpassung an den Mainstream.
Wir sehen zu wie Celebrity K. uns vormacht, wie Frau essen soll: It’s pretty lifechanging, beispielsweise einen Schokoriegel: How to eat a Kitkat in six steps. Step one: K. knabbert die Schokolade von den Seiten ihres Kitkat ab. Ganz ganz vorsichtig. Oh-oh, I ate too much! You are not supposed to eat the crunchy part yet.
Wir sind (genauso wie) unsere Mütter die uns anrufen (wieder und wieder und wieder) und wir drücken sie weg (Aus Versehen? Von wegen! Das ist doch kein Versehen!), weil eine Freundin anruft, die wir lang nicht gehört haben, und im Laufe des Gesprächs kommen wir auf den Punkt, treffen wir einen (wunden) Punkt, worauf die Freundin sagt, wir sollen sie nicht immer zurechtweisen, wir sollen nicht sagen, dass ihre Aussagen und Ansichten heteronormativ seien, erstens, weil sie dieses Wort nicht mag, und zweitens: Warum dürfe eine Frau keine Frau sein und ein Mann kein Mann? Und schon haben wir diesen Popsong im Kopf, in Endlosscheife, den wir den Rest des Tages nicht mehr loswerden, eigentlich wiederholt unser Hirn immer dieselbe Zeile, muss diese Zeile wiederholen, muss diese Verzweiflung wiederholen. Wann ist eine Frau (k)eine Frau und ein Mann (k)ein Mann und ein Mensch ein Mensch?
Wir sind Der Ursprung der Welt, wir tragen ein goldenes Kleid und nichts darunter, (wir wollen den Ursprung des Ursprung zeigen, das Unendliche), wir werden den Besuchern des Museums, die Courbets Gemälde Der Ursprung der Welt sehen wollten (wir setzen uns direkt unter das Bild, öffnen die Schenkel, öffnen die Vulva) unsere Vagina präsentieren. Den Ursprung des Ursprungs. Das Unendliche.
Wir sind Die Frau in Rot, (nein, nicht die Kömodie von 1984), wir sind #womaninred, wir sind ein globales Ereignis, unser Haar weht im Sturmwind einer Reizgaswolke, als ein Polizist (er trägt eine Atemschutzmaske) aus nächster Nähe das ungeschützte Gesicht besprüht. Unser Bild als #womaninred wird zum Sinnbild der Proteste in Istanbul. Unser Konterfei wird auf ein lebensgroßes Transparent gedruckt, der Kopf ausgeschnitten, sodass jede von euch ihren Kopf für ein Foto durchstrecken und unseren Platz einnehmen kann.
Wir sind der Chor der jungen Frauen, die skandieren (oder ist es ein Mantra, gemurmelt?): Mea vulva, mea maxima vulva, mea vulva, mea maxima vulva, mea vulva, mea maxima vulva, mea vulva, mea maxima vulva, mea vulva, mea maxima vulva …
Wir lesen das Brigitte-Kochrezept für den modernen Menschen: Authentizität, Innovation, Perfektion.
Wir sind vielleicht ein Meter sechzig groß und wiegen vielleicht fünfzig Kilo, wir stellen uns in den Weg, ruhig wie ein Monolith stehen wir da, die Fäuste erhoben, stehen wir ganz allein vor rund 300 Neonazis, die Volksverräter Volksverräter Volksverräter skandieren.
Wir schreiben im Gefängnis Gedichte, weil sie sich leichter auswendig lernen lassen. Wir schreiben sie auf Handflächen, Knie, Rippen, Hüften. Prosa nimmt zuviel Platz ein.4
Wir ertragen täglich die Hysterie unserer mailbox: Orgasmen zum Weltfrauentag, Auf uns, Ladies! Es gibt genug zu feiern. Deshalb sollten wir uns richtig verwöhnen! Was wäre dafür besser geeignet als das 50-shades-of-Grey-Set aus Vibrator, Toybag inkl. Handschellen, Mr. Right und leckerem Gleitgel zum Aktionspreis? Eben.
Wir sind ein von Pro 7 oder einem austauschbaren anderen TV-Sender auserwähltes Mädchen, unsere Antwort auf die austauschbare Frage ist: I would prefer not to.
Wir wachen auf und finden uns in einem anderen Körper wieder, einfach so, mit einem eindeutigen Geschlecht. Einem eindeutig besseren. Und einfach so, beginnt ein heller Tag.
Wir wissen, es gibt Sätze, die sich nicht mit einem Satz sagen lassen. Wir wünschen uns einen Satz für alle, denen man die Würde genommen hat.5 (Break the spell).
Wir sind das Schreien, das Schweigen der Gegenstände in unserem Zimmer.
Wir sind Feminist_innen und wir sollten alle Feminist_innen sein, weil Feminismus nur ein anderes Wort für Gleichheit ist.6
Wir sind im Übrigen nach wie vor der Meinung: Die Gesellschaft verzeiht den Frauen nichts.
Wir schlafen manchmal vor Erschöpfung ein, wenn wir unsere Kräfte unterschätzt und unseren Zorn nicht richtig dosiert haben.
Wir sind das Final Girl, die unbegrenzte Möglichkeit, wir sind das Weiß der Unschuld, wir sind die Projektionsfläche, im Widerstand und Zusammenspiel von Körper und Sprache, wir sind die weibliche Hauptfigur (weil wir schwächer, kleiner und weniger intelligent sind 7), und die Einzige, die den Film bis zum Ende überlebt, wir sind die Frage, die der Antwort zuvorkommt (müssen wir weniger verdienen 8), wir sind das Final Girl, wir bringen die Widersacher zur Strecke, wir sind die unbegrenzte Möglichkeit, wir sind die Moral, der Anstand, die Stereotype, die uns anekeln, und ihre Auslöschung (Girl wird Grrrrrrrrrrrl, ein Knurren, ein Kampflaut).
We mark ourselves safe vor dem Phänomen (einem Kaleidoskop aus Fakten kollektiver Selbtsttäuschung), dieser neuen Wildnis starker Männer, vor so viel Macht so viel Selbstgewissheit so viel Hass.

Wir wachen manchmal davon auf, dass wir im Schlaf lachen.

III. to be continued

IN ORDER OF APPEARANCE: Virginia Woolf, Rebecca Solnit, Tracey Emin, Jessamyn Stanley, Valie Export, Kourtney Kardashian, Deborah de Robertis, Ceyda Sungur, (Lars von Triers) Nymphomaniac(s), Tess Asplund, Nadja Tolokonnikowa, (Herman Melvilles) Bartleby, (Virginia Woolfs) Orlando, Herta Müller, Malala Yousafzai, Janusz Korwin-Mikke


  1. Virginia Woolf, A Room of One's Own 

  2. Virginia Woolf, A Room of One's Own 

  3. Rebecca Solnit, Men explain Things to me, 2014 

  4. Nadja Tolokonnikowa 

  5. Herta Müller 

  6. Malala Yousafzai 

  7. Janusz Korwin-Mikke  

  8. Janusz Korwin-Mikke  


Sandra Gugić — geboren 1976 in Wien. Studium an der Universität für Angewandte Kunst Wien und am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Veröffentlichungen (Prosa, Lyrik, Essays) in Zeitschriften und Anthologien, Arbeiten für Theater und Film. 2016 erhielt sie den Reinhard-Priessnitz-Preis für ihren ersten Roman Astronauten (C.H.Beck, 2015). Im Frühjahr 2019 erscheint ihr Lyrikdebüt Protokolle der Gegenwart im Verlagshaus Berlin.

→ http://sandragugic.com/