15. Februar 2017 — Migration

Ich sah hinab ins Tal. Nebel lag dort unten zwischen den Wipfeln der dunklen Tannen, regungslos wie ein Stück Stoff. T. schob sich ihre Kapuze aus der Stirn, ich suchte auf der Karte nach dem punktierten Weg, dem gewundenen Abstieg am Grat entlang, aber dann ging T. einfach los. Ich folgte ihr, ich sagte, ich wüsste nicht, ob wir uns hier noch auf der Route befänden, hinunter ins Tal, nach V., und sie sagte, sie könne den Fluss schon hören, irgendwo da unten zwischen den Bäumen höre sie den Fluss. Nach einer halben Stunde begannen mir die Knie zu zittern, T. dagegen schien schneller zu werden. Sie wartete auf mich an der Baumgrenze. In der Ferne war ein Fluss zu hören. Sie lächelte, ich lächelte auch. Wir folgten dem Fluss. Der Boden dampfte, kein Vogel war zu hören.

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Florian Wacker

Wenn wir hinaufsehen zu den Gipfeln, glauben wir, endlich in Sicherheit zu sein. Wenn wir den Wind hören und den Regen in unseren Gesichtern spüren, dann glauben wir, dass es unser Tal ist, endlich, dass wir uns nicht mehr umschauen müssen nach den Geräuschen hinter uns. Wir sind über gewundene Pfade hergekommen, es schneite vielleicht. Wir stiegen die gewundenen Pfade hinab, unsere Tritte lösten kleinere Steinlawinen aus, die staubend die Hänge hinunterbrachen und zwischen den Bäumen wieder versiegten. Wir sind jetzt hier, es ist jetzt unser Tal, wir haben es zu unserem gemacht. Wir haben es vermessen, wir haben die Helikopter angewiesen, die Balken und schweren Geräte unweit des Flusses abzusetzen. Wir haben Pfähle in den Boden geschlagen, tagelang war das Geräusch der Motorsägen an den Berghängen zu hören. Es ist jetzt unser Tal, es sind unsere Hänge. Einige sind gestorben, erschlagen von fallenden Bäumen, zermalmt von Lawinen. Wir wiesen die Helikopter an, die Kälber auf einer schmalen Weide abzusetzen. Die Tiere schrien verstört und verdrehten die Augen ins Weiß. Wie riesige Spielzeugfiguren hingen sie an der Winde, schwangen sachte hin und her. Manche sagen, wir wären davongelaufen, aber es war dieses Tal, das uns zu sich gerufen hat. Hier werden wir bleiben.

Kurz darauf tauchten die ersten Häuser auf, gedrungen, aus groben Steinen gemauert mit tief hängenden Dächern, von denen das Wasser tropfte. T. Und ich hatten Hunger, eine warme Suppe, etwas Brot, bei Wetterbesserung würden wir den Weg weiter nach V. gehen und dort übernachten. Am Eingang des Dorfes war kein Schild, ich konnte mich auch nicht daran erinnern, es in der Karte entdeckt zu haben, aber nun war es da, lag geduckt, tropfend um mich. Schon erreichten wir den Dorfplatz und das am anderen Ende des Platzes gelegene Gasthaus. T. blieb stehen, blickte auf ihre Uhr. Ich sah nach der Schenke, wo ich hinter den Fenstern Schemen zu erkennen glaubte. Dann öffnete sich die Türe und zwei traten heraus, sahen zu uns, einer winkte uns. Er trug eine lederne Joppe, Filzschlappen, der andere eine Basecap. Sie fragten, woher wir kämen, und wir sagten es ihnen. Sie nickten. Woher wir denn kämen, fragten sie erneut. Wir sagten es ihnen. Es hatte wieder leicht zu nieseln begonnen und wir standen mit angezogenen Schultern unterhalb der Treppe, während die beiden oben standen und uns musterten, unsere Worte zu zerkauen schienen. Ob wir denn Devisen dabei hätten, fragte einer. T. nickte. Das Gesicht des einen hellte sich etwas auf, er schien zu lächeln. Dann kommt rein, sagte er.

Die Stube war einfach eingerichtet, Holzbänke und Stühle, Funzeln unter fleckigen Schirmen, an den Wänden Geweihe, ein Dreschflegel, bunt bemalte Teller. Man wies uns einen Platz zu auf der Bank, und wir bekamen zwei Tassen dampfenden Früchtetee. Ich fragte nach etwas zu essen. Der mit der Basecap lehnte an der Theke und sah zu uns, schüttelte er den Kopf, während in seinem Rücken der Wirt in eine Durchreiche sprach. T. nahm die Tasse und nippte daran. Eine Frau erschien, sie kam eine Stiege herunter mit laut klackenden Schritten, sie blieb stehen, als sie uns sah, und für kurze Augenblicke legte sich ihre Stirn in Falten. Sie ging zur Theke, sie sprach leise mit den beiden Männern. Ich beugte mich zu T. Ob sie verstehe, was hier los sei? T. zuckte mit den Schultern. Sind halt etwas schrullig, sagte sie leise. Die Frau kam an unseren Tisch und legte vor uns ein auf einem Klemmbrett festgehaltenes Formular. Das hätten wir zuallererst auszufüllen, dann gäbe es ein Zimmer und was zu essen.

Manche sagen, wir wären davongelaufen, aber es war dieses Tal, das uns zu sich gerufen hat.

Es wird immer unser Tal bleiben, sie können denken, was sie wollen, es tut nichts zur Sache. Sie können reden, Fahnen schwenken, sie können uns Geschenke machen (da gab es Versprechen von Traktoren und modernen Melkmaschinen, ganze Batterien mit glänzenden Motorsägen, eine geteerte Straße, Anschluss ans Kabelnetz), aber sie können uns nicht beeindrucken. Es wird immer unser Tal bleiben, es wird nach unseren Namen heißen, unsere Merkmale tragen. Sie halten uns für Hinterwäldler, für Idioten, die sich aus Angst um das bisschen Leben an das klammern, was sie kennen. Sie glauben, wir würden nie heimisch zwischen den Hängen werden können, denn wir sind hier nicht geboren. Wir sind über die Pässe eingestiegen mit „Sack und Pack“, so sagen sie, mit „Sack und Pack“ sind wir gekommen, zuerst in beheizten Zelten vom roten Kreuz, dann in Containern, die das Militär einfliegen ließ, bis wir schließlich selbst mit dem Bau unserer Häuser begannen, Steine schlugen, Bäume fällten und zu denen wurden, die wir jetzt sind.

Gegen zwei Uhr in der Nacht schreckte ich hoch. Ich schlug mit dem Kopf gegen den Bettkasten über mir und verharrte für Momente atemlos. Es war still, ich konnte T. gleichmäßig atmen hören, der Boden knackte, als ich meine Füße darauf setzte. Ich musste dringend Wasser lassen, ich ging einige Schritte, mit den Händen um mich tastend wie Fühler, durch eine schwere Dunkelheit. Ich folgte der rauen Maserung der Wand, bis ich den Türgriff erspürte, ihn herunterdrückte, wartete. Ich bewegte ihn noch einmal, heftiger, aber außer einem mechanischen Knacken geschah nichts. Etwas ging in diesem Moment durch mich, ein auf dem Kopf stehender Gedanke: Ich bin draußen und ein anderer hier drinnen, ich bin oben in den Hängen beim Holzschlagen, ich esse und schlafe, im Morgengrauen beginnt es von vorn. Ich lehnte meine Stirn gegen das Holz der Türe und glaubte Stimmen zu hören, schwach wie Nieselregen.

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Florian Wacker

Wir sprechen eure Sprache nicht. Ihr in den anderen Tälern, ihr drüben in den weiten Ebenen jenseits der Berge, wo sich das Land sanft zum Meer hin absenkt und man diesen eigentümlichen Geruch nach Verblühtem in der Nase hat, ihr in den Neubausiedlungen, und ihr in den umzäunten Quartieren. Wir verstehen eure Bücher und Verkehrsschilder nicht. Wir können nicht zurück, wir können dieses Tal nicht verlassen, ohne um unser Leben fürchten zu müssen. Es ist kein Platz mehr, und die, die zu uns stoßen wollen, sie wollen es vergeblich. Wir hören alle Geräusche hinter den Stimmen, nur nicht die Stimmen selbst.

Gegen Mittag wurden wir wieder hinunter in den Gastraum geholt. Ich war noch benommen, hatte neben T. im schmalen Bett gelegen und gedöst. Wir sollten uns setzen. Der Wirt sprach mit uns, sagte, man würde uns wegbringen von hier, denn hier ginge es nicht, auch drüben in V. ginge es nicht und schon gar nicht in N. Man werde uns wegbringen. Ich fragte: Wohin? Da gibt es einen Zug, sagte der Wirt, da werdet ihr einsteigen und weggebracht. Für einen Moment wollte ich in ein befreiendes Lachen ausbrechen, und alle anderen würden mit mir lachen. Man brachte uns hinaus auf den Dorfplatz und wies uns an, auf den bereitgestellten Anhänger zu steigen. Ich half T. Der Motor des Zugfahrzeugs wurde angeworfen und schon ruckte der Anhänger wuchtig nach vorn, reflexartig packte ich T. an der Jacke. Die Häuser und das Dorf blieben hinter uns, das Gefährt folgte einer schmalen Schotterstraße. Ich konnte den Fluss zwischen den Bäumen sehen und dahinter die steil aufragenden Hänge des uns einschließenden Massivs.

Ich stand neben T., oben am Grat. Hinter uns lag ein vierstündiger Aufstieg, und vor uns lag das Tal, nebelfrei, eingefasst von bewaldeten Steilhängen, besprenkelt mit Obstplantagen und aufgebrochen von der schillernd glänzenden Fläche eines Sees. T. nahm ihren Rucksack ab und zog sich die Jacke aus. Ich tat dasselbe. Es kam einer Befreiung gleich, nach den Stunden und Tagen in den diesig feuchten Wolkenbänken. Wir sahen uns an, und ohne etwas zu sagen, wussten wir, dass wir schnell ins Tal hinabsteigen würden, um dort unten einige Tage zu bleiben.

Wir wissen zu viel, um uns noch einmal umzublicken.


Florian Wacker — geboren 1980 in Stuttgart. Studium der Heilpädagogik und am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Tätigkeiten in der Behindertenhilfe, der Kinder- und Jugendpsychiatrie und der Jugendhilfe. Lebt und arbeitet als Autor und Webentwickler in Frankfurt am Main. Verschiedene Auszeichnungen, zuletzt: Stadtschreiber für Kinder- und Jugendliteratur 2017, Oldenburger Kinder- und Jugendbuchpreis 2015.

→ http://www.florianwacker.de/