19. Oktober 2016 — Demagogie

Ich habe mit dem Präsidentschaftskandidaten der Freiheitlichen Partei Österreichs Tango getanzt. Er stand gestern Nacht in einer Kellerbar bei mir ums Eck und wippte gelassen an seinem Gehstock zu Of Monsters And Men. Er trug ein warmes Lächeln und wirkte wie ausgewechselt. Ich kannte den Kandidaten der Freiheitlichen Partei Österreichs bislang nur von den Wahlplakaten und Fernsehdiskussionen und auch von einer Wahlkampfveranstaltung im Wiener Rathaus, bei der es Freibier für alle gab, die in Trachtenjanker oder Dirndlkleid erschienen, und auf welcher schnulzige Lieder über Österreich gesungen wurden, woraufhin die Menge in Trachtenjanker und Dirndlkleid patriotische Freudentränen weinte und Österreichfahnen schwang. Damals stand der Kandidat der Freiheitlichen Partei Österreichs als echtester aller Österreicher gleichsam an vorderster Patriotenfront und redete von Heimatverteidigung, Werteverlusten, Überfremdungsgefahr und Vergewaltigungsasylanten. Gestern aber, in der Kellerbar bei mir ums Eck, wurde aus dem Volksfanatiker und rhetorischen Lügner, so hatte ich kurz das Gefühl, ein Mensch.

Er stand im Licht, das sich an der Discokugel in surreale Gebilde aufspaltete. Er streckte die Hand aus, nach den Reflexionen, die im Raum und an seinem Körper entlang trieben. Er tanzte in hautengen Jeans und schwarzer Hornbrille, in abgetragenen Lederstiefeln, und im Mundwinkel hing ihm, selbstgedreht, die Zigarette. Schwerelos fast, so schien es mir, schwebte er über den Boden der Kellerbar. Weit über Mitternacht hinaus saugte er sie, die Tanzfläche, regelrecht auf: nein, er selbst war die Tanzfläche! Ich, ihn beobachtend, saß derweil an der Bar, müde und rastlos wegen des beschissenen Vollmondes dieser Nacht, wollte gerade etwas Zeitvergessendes bestellen, da hockte er sich neben mich, der Kandidat der Freiheitlichen Partei Österreichs, schwungvoll und viril.

Er bestand darauf, mich auf einen Drink einzuladen, und was ich denn im Übrigen von der Verleihung des Literaturnobelpreises an Bob Dylan hielte, fuhr er ansatzlos fort, dem Typ hinter der Bar deutend, er wolle uns doch zwei Bourbon On Ice bereiten. Er wäre sozusagen in der Stimmung für ein, zwei Bourbon On Ice, was nicht oft vorkäme, so fügte er nonchalant hinzu, das passiere ihm immer nur in diesen unverhofften Möglichkeitsräumen spätnachts in irgendeinem Keller. Ich war mir bei alldem eigentlich alles andere als sicher, ob ich denn tatsächlich einen Bourbon On Ice nun wollte, doch der Kandidat der Freiheitlichen Partei Österreichs sprach in überraschender Vertrauenswürdigkeit, auch Ernsthaftigkeit und Zerbrechlichkeit. Für ihn, so sagte er, hätte Bob Dylan die sozialen Dringlichkeiten seiner Zeit unverhohlen eingefangen, eine schonungslose Versprachlichung, ja Poetisierung gesellschaftlicher Umstände, so nannte es der Kandidat der Freiheitlichen Partei Österreichs. Ob es nun einen Literaturnobelpreis brauche, um das zu erkennen, sei dahingestellt, er hätte jedenfalls nie aufgehört, der Kandidat der Freiheitlichen Partei Österreichs, an Dylan zu glauben. So hob er sein Glas Bourbon und stieß mit mir an, zu The Head And The Heart.

Er entschuldigte sich für seine Direktheit, der Kandidat der Freiheitlichen Partei Österreichs, es würde gerade über ihn kommen und er müsse mir sein Herz ausschütten, das läge wohl am Vollmond. In Vollmondnächten sähe er die Welt anders. Er erkenne dann die Feigheit seiner üblichen Gedanken, die Hässlichkeiten, die er durch sein Reden hervorbringen würde. Auch erkenne er die Verlogenheit seiner eigenen Partei, die aus Machtgier und Übermut mit demokratischen Grundsätzen breche, verächtliche Intrigen spinne, menschenunwürdige Parolen hinausposaune, ja, schlicht eine bösartige Hetze betreibe, das alles erkenne er. Auch erkenne er dann, in Vollmondnächten, die Notwendigkeit des Radikalen nicht da, wo die Toleranz des Anderen angebracht wäre, sondern eben dort, wo tatsächlich die Ungerechtigkeit stattfände: in der Ausbeutung der Rechtlosen, die gerade auch im verlogenen Umgang mit Migrationsbewegungen hervorträte – Bewegungen, die doch einer Umverteilung von Menschen gleichkäme, weil anderswo Umverteilung fehle! Und genau in dieser Frage würde das Schüren der Ängste durch neonazistische, rassistische Politik den Fokus nicht nur verschieben, sondern die prekäre Lage krass verschärfen, so formulierte es der Kandidat der Freiheitlichen Partei Österreichs. Und ja, er wisse gerade in Nächten wie diesen sehr gut sogar um die Bedrohung des sozialen Friedens durch die rechts-ideologischen und völkisch-nationalen Allianzen Europas, diskutiere auch oft mit seiner Frau und seinen Kindern darüber, wie zerstörerisch, kriegstreiberisch und katastrophal seine eigene politische Mission sei, und dass die Antwort auf Terror niemals die verantwortungslose Aufrüstung des Nationalgedankens sein könne. Er erkenne außerdem, immer wenn ihm der Mond so grell ins Auge strahle, wie wenig Zeit er dem unerwartet Schönen gewidmet habe; der Tatsache nämlich, dass es die Widersprüche seien, die unauflösbaren Dilemmata des Menschenseins, die uns näher heranbrächten vielleicht an eine besser Welt (und er sagte das Wort von der besseren Welt ohne Zynismus und Ironie).

„People talking without speaking. People hearing without listening.“

— Simon & Garfunkel

Es sprach ein unverblümt sozialromantischer Mensch zu mir, dessen Utopie es war, die Barrieren des Trennenden zu überwinden, die Barrikaden des Feindlichen abzureißen, das Fremde als Befragung des Eigenen zu begreifen, denn, so sagte er es letztlich, es gäbe „eine Frage des Fremden. Es ist dringend notwendig, sie anzusprechen – sie als solche zur Sprache zu bringen. Gewiss. Bevor sie aber eine zu behandelnde Frage ist, bevor sie einen Begriff, ein Thema, ein Problem, ein Programm bezeichnet, ist die Frage des Fremden eine Frage des Fremden, eine Frage, die vom Fremden her kommt, sowie eine Frage an den Fremden, eine Frage, die an den Fremden gerichtet wird. Als ob der Fremde zuallererst derjenige wäre, der die erste Frage stellt, oder derjenige, an den man die erste Frage richtet. Als ob der Fremde das In-Frage-Stehen wäre, die Frage selbst des In-Frage-Stehens, das Frage-sein oder das In-Frage-Stehen der Frage. Aber auch derjenige, der, indem er die erste Frage stellt, mich in Frage stellt.“1 Das alles sagte mir der Kandidat der Freiheitlichen Partei Österreichs an der Bar in jenem Keller bei mir ums Eck, und es war schon der dritte und vierte und auch fünfte Bourbon. Und als mich der Kandidat der Freiheitlichen Partei Österreichs schließlich, beim sechsten und siebten Bourbon aufforderte, doch mit ihm zu tanzen, da tat ich es.

Neonrosa getränktes Licht vermengte sich nun mit Vampire Weekend. Es läge tatsächlich an diesem verdammten Vollmond, beteuerte er neuerlich. Da müsse er stets ungebremst und in purer Leidenschaft alles und jeden umarmen, so gestand er mir nun Arm in Arm, und er hob an, zum Tango. Ich hatte eigentlich lange vergessen, wie man ihn tanzte, den Tango, doch in ungeahnt graziler und fraglos entschiedener Führung des Kandidaten der Freiheitlichen Partei Österreichs entschwand meine Furcht, mein Zweifel, meine anfängliche Ablehnung. Ich vertraute mich ihm an und er führte mich nach rechts und wieder herum (es verschwammen die Positionen). Wir näherten uns an; ich, der ich mich links der Gesellschaft wähnte; er, der mir bislang als scheußliches Déjà-vu einer Ära zwischen Dollfuß und Hitler erschienen war; wir liebten uns in dieser Nacht.

Dann, auf der Straße, als der achte, neunte und auch der zehnte Bourbon bereits verschüttet war, als die Yeah Yeah Yeahs uns hinaus ins Freie begleitet und Wolken den Vollmond überzogen hatten, als dann ein letzter Kuss den Abschied kündete, da drehte ich mich noch einmal um, zu ihm, dem Kandidaten der Freiheitlichen Partei Österreichs, der mich aus meiner Mitte zu reißen drohte, mich taumeln ließ, für Momente meine Überzeugungen vergessen machte, mir seine Lippen ansetzte, auf denen die Ahnung einer Macht zu schmecken war: einer Macht, die kommen werde, so hatte er mir ins Ohr geflüstert, einer Macht, die auch mich bald erfasse (und die Hand, die mich an ihn heranzog, wurde dringlicher, wurde unwiderstehlich). Ich war ihm verfallen, wollte nun nicht, dass er gehe, wollte, dass er mich mitnehme, wo immer es ihn hinziehe, ich an seiner Seite. Es wäre doch unsere Nacht! Unser Vollmond! So blickte ich ihm lange noch nach, ein abschließendes Auf-Bald erhaschen wollend – und merkte erst da den Betrug:

Grad war er um's Eck. Er ahnte nicht, dass ich ihm nach war. Da tauschte er, mit anbrechender Morgendämmerung, seine glaubwürdig vorgeführte Maske aus, samt allen erfundenen Überzeugungen. Was darunter lag, konnte ich nicht erkennen, zu schnell war er in seiner neuerlichen Anpassung, wurde, in Tracht nun, mit den Accessoires des freundlichen Typs von Nebenan zum Sonnyboy des Volks. Er rieb sich die Augen, die Hornbrille war verschwunden, strich das Hemd glatt. Noch wollte ich ihm nachrufen, ihm nachspringen, ihn erneut heranziehen an mich, als Betrogener nun, um endlich zu fragen: Was bist du für ein Mensch? Da fiel er, als wäre er, was immer man in ihm sehen wolle, hinein in die nächste Zirbenbar, aus der das Österreichische zum Frühschoppen anhob. Mein Versuch, ihn hier zu stellen und öffentlich den Betrug zu verlautbaren, schlug (und das ist der Endpunkt und Tiefpunkt meiner Erzählung) fehl. Drei der testosterontrunkenen Frühschoppen-Burschen gaben mir gewaltig zu verstehen, ich solle mich verpissen. Die Galle fuhr mir hoch, ich erbrach mich auf irgendeinem Trachtenjanker. Dann entschwand mein Bewusstsein. Ich hörte nur mehr, dumpf, Disturbed, das Cover von The Sound Of Silence.


  1. Jaques Derrida: Von der Gastfreundschaft. Aus dem Französischen von Markus Sedlaczek. Hg. v. Peter Engelmann. Wien: Passagen 2015. 


Thomas Arzt — geboren 1983 in Schlierbach (Oberösterreich), lebt in Wien. Studium der Theater-, Film- und Medienwissenschaft an der Universität Wien. Schreibt Lyrik, Prosa, Essays, Hörspiele und Theaterstücke.

→ http://www.thomasarzt.at