31. Mai 2017 — Demokratisierung

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Es begann mit Lärm. Mit Trommelwirbel, Feuerwerk und Jubel. Ich lief los und mit mir viele andere. Es lachte damals, KILOMETER NULL, das Herz noch der Gemeinschaft. Neues lag vor uns und Vielversprechendes. Wir querten nach dem Start den Fluss, und unter uns da schwamm's hinab ins Meer: altes Jahrtausend. Liefen quer, so kam's mir vor, zu der Geschichte, und hinein in eine Stadt, sie hatte sich herausgeputzt für eine Zukunft. Manche tanzten, schlugen Saltos, wollten alles gleich (wie sagt man's?) niederreißen auf einmal, da dacht ich noch, man müsse wohl die Kräfte sparen, ist mit Längen auch zu rechnen: so begann der Lauf.

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Der Lärm hielt an, als wollt man's länger noch genießen, das Beginnen, weil's so schön, in Anfangseuphorie. Da bauten sich die Türme auf, die Stadt erhob sich neben mir, gigantisch schien's. Wir liefen in das Zentrum, Mittelpunkt der Welt, und dachten, alles hier an Welt hätt Platz in unsrer Mitte, bis es krachte. Hat uns kalt erwischt, KILOMETER NULL EINS, und weithin hörbar: dieses Krachen, über Trommelwirbel, Feuerwerk, Jubel hinweg, und unterteilt von Stille. Erstes Schweigen. Zweites Schweigen. Wortlos in Erschütterung. Die Türme, alle beide, stürzten vor mir ein, sollt ich nun stoppen? War ja erst eröffnet, dieser Lauf. Und keiner dachte also dran, zu halten. Grad erst jetzt! So riefen's alle, noch die Euphorie im Blut. Wir hetzten los. Es war der zweite Startschuss uns, und uns der lautere. Das steigerte das Tempo, und Gedankenschwere ließ ich hinter mir, blickte nach vorn: So muss man's tun! Die Menge in Bewegung, mitten drinnen ich.

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Der rechte Laufschuh des linken Autors im Profil betrachtet. — (c) Thomas Arzt

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Es vergingen Kilometer und, so schien's, ich wuchs an meiner Aufgabe. Da standen Menschen, die mir zuriefen, es werde alles gut, ich fühlte mich bestärkt, es riss der Himmel auf, endlich, und, KILOMETER NULL FÜNF NULL SECHS, schien mir zum ersten Mal die Sonn. Sie tat so gut, die Endorphine küssten mich, ich küsste sie zurück, war heiter und beseelt, bis plötzlich an der Biegung, diese Biegung, da, vorbei am Innersten, dem Kern der Welt, aus Trümmern aufgerichtet, vom Beginn, und Türme wieder hochgezogen (Spiegelung darin von meinem Lauf: ich sah mich, angetrieben von dem Blick auf mich, gesteigert, schneller, weiter, auch die Türme waren höher), bis an dieser leicht gebognen Wendung jener Riss erkennbar wurd.

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Der Riss, KILOMETER NULL SIEBEN, ging nicht aus dem Augenwinkel und unweigerlich zog er sich direkt rein ins Zentrum meiner Laufspur, wurde größer. Dachte erst an etwas, was vergehen würd, da war's, KILOMETER NULL ACHT, schon gar kein Riss. Ein Spalt. Der Boden war gebrochen. Lautes Krachen wieder. Diesmal doch ein Einbruch, der durch Mark und Bein. Und alles trieb, was folgen sollte, auseinand, der Lauf wurd zum gespaltenen. Ich suchte Halt. Ich sah vor mir die ersten wanken, stürzen, eilte ran, die Hand nach ihnen auszustrecken, sie herausziehen, aus der Öffnung, die zu einem Graben werden sollt, da merkt ich's: war längst selber in Gefahr hier reingezogen auch zu werden. Aus Reflex (welcher Reflex? die Arroganz? der Überlebenswille? Einsicht, hier nichts ausrichten zu können?) ließ ich los, mich selbst hinwegzuretten, über diesen Abgrund, der, KILOMETER NULL NEUN, mich trennen würd, von allem, was ein Weiterkommen mir bedeuten könnte, und: ich wollte weiterkommen! Drum nach vorn geblickt, ich blendete es aus, was hinter, neben mir, an Rändern meiner Strecke, hatte mich geübt darin, den Blick auf meinen eignen Lauf, es ging hier, ich geb's zu, allein um mich. Ich nannt es eine Selbstfindung, und mehr noch, eine Selbstbeweisung: dass hier in dem Chaos dieser Welt doch immer noch ich selbst.

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Ich kämpfte, mühsam, aber stetig. Sagte in Gedanken Sprüche: Nur die Härtesten, kein Zuckerschlecken, Ponyhof und Wirklichkeit, und war bei mir, vollkommen. Hatte eine schwere Zeit durchwandert (das passiert beim Lauf, es kommt auf Stärke an, mentales Rückgrat, Schmerzen unterdrücken), und ich schaffte, durch die Unterdrückung meiner Schwächen, auch des Zweifels, neuen Höhenflug. Ich lachte. Und mit mir die andern. Es erholte sich die Stadt und neue Unbekümmertheit durchzog jetzt unsre Körper. Wieder küssten Endorphine mich, ich schüttete die Liebe aus, ganz laut nun die Musik in meinem Ohr. Und lass doch die Ekstase zu, denn nur wer sich verausgabt, lebt hier wirklich! Kilometer zogen nun an mir vorüber, Hitze, Schweiß, und Wasser löschte unsren Durst, und Regen, mehr und mehr ergoss sich über uns, wir hätten's da schon wissen müssen: neue Stürme kommen. KILOMETER DREIZEHN, und dann war's. Erst dacht ich, ist mein Herz, das schlägt, doch was hier einschlug, kam von außen, von den Grenzen meiner Wahrnehmung, nur dumpf in Resonanz erst spürbar. Es schwoll an, monströs. Ich sah mich um. Ich hatte das Gefühl, es war ganz nah, doch nichts, bei mir noch alles Frieden. Angefeuert von den Menschen, die im Jubel scheinbar es nicht hörten, wollt ich weiter, doch die Beine wurden schwer.

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Endlich kamen Bilder, groß und erstmals in der Klarheit, die es brauchte. Auf der Übertragungsleinwand sah ich's: Millionen andrer Läufer, die nicht liefen, um ein Selbst zu finden, sondern Existenz. Und hinter ihnen fielen Schüsse. Bomben sprengten Landschaften dort auseinander und jetzt war's: ich kam ins Wanken hier. Es brach, KILOMETER FÜNFZEHN, die Randbegrenzung auf, die Menschen waren wohl zu nah an die Versperrung meines freien Laufs herangekommen, nahmen nun für sich die Plätze ein, fielen herein, vor meine Füß, die Millionen auf dem Boden. Lief zu den Verpflegungsstellen, reichte Wasser den Hereingekommnen, lief mehrmals, nach vor, zurück, sah nur mehr Menschen voller Durst, vergaß dabei (vielleicht zu lange!), selbst zu trinken, was war los? Ich stand dann eine Weile, schloss die Augen, hörte rein, hörte mich beben, sprach mir zu, auch das jetzt hinter mir lassen zu müssen. Gab mein Geld und alles aus der Tasche, hoffte, dass das Alles, was da in der Tasche, wenigstens das Mindeste wird schaffen können. Dass ein Gutes noch vorhanden, KILOMETER SECHZEHN. Wollt es glauben, dass die Strecke hier das alles trage. Dass hier, mit Verbreiterung der Bahnen möglichst viele diesen Lauf, mein Gott, wieso nicht alle denn zusammen, war das wirklich so unmöglich? War das wirklich auch mein Wunsch? Weiß es nicht, ehrlich gesagt, und Zweifel kam, der zuvor unterdrückte nämlich. Denn wenn Kräfte schwinden, machst verwundbar dich. Und in den Zweifel, in die Wunden, was kein Wunder war, sangen die Schlachtenrufer zweifelhafte Lieder, elendslauter Chor: der Lauf ist nicht für alle da! Der Lauf ist nicht für alle da! Der Lauf ist - - Stille. Hielt die Ohren mir. Und lief, als einer, der noch laufen durfte, denn mein Startgeld hatte ich bezahlt, nun weiter.

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KILOMETER SIEBZEHN, jetzt und hier, stellt aber mich vor die Entscheidung. Grade aus geht es ins Ziel, wo Jubel mich erwarten würd, der Siegestrunk für eine halbe Strecke, die als volle mir erscheinen will. Im Zielraum ist die Party. Von Zäunen abgesperrt. Jetzt lauf doch rein! Jetzt komm zu uns! Der Schweinehund im Innern wird ganz grässlich laut und alles spricht dafür. Ich ring nach Luft, ich würd mich allzu gern von diesem Chor am Streckenrand mit starker Hand und sanfter Wehmut weitertragen lassen, bis hinein, wo aus dem Rand die Neue Mitte, und die Arme leiten mich dorthin, ich sag es fast: ich komm ja schon - - ich stock dann doch. Ich steh. Und Schweiß rinnt auf Asphalt, was ist geworden? Letztlich nur ein klar umgrenztes Ziel, weswegen ich hier lauf? War's nicht auch Überwindung mal, von Grenzen? Mich nicht immer nur beweisen, mich auch überprüfen, mich aus meinem Selbst mal rauszunehmen, schauen, was da Andres möglich. Andres rein in mich zu lassen, Welt zu atmen, neu. Ein Denken, das sich löst, vom Boden, Schwebezustand, aufgelöst sind Raum und Zeit. Und weiter noch zu kommen, als ich je für möglich hielt. Das war's doch, meine Utopie des Anfangs: weiter hier zu kommen, als es alle hier für möglich hielten! Schluss mit Ohnmacht. KILOMETER SIEBZEHN, Blick nach vorn, und weiter, selbstbewusster, weltdurchzogner, unerwartet langer Atem.

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Alles wird bald wund sein. Alles weh tun. Alles wird im ersten Anschein auch dagegen sprechen. Doch, ich sag's: ich werde mich am End entschieden haben, für die längste aller Strecken, die ich jemals dann gelaufen bin, und, ja, kann sein, ich werde fluchen, werde fallen, an den Füßen (sie sind offen!) werden lang schon Blasen aufgegangen sein und tief dringt's rein, weil das tut weh, so eine Offenheit. Doch will nichts andres lieber! Werde hoch mich wieder raffen, werd mit aufgeschürfter Hand dann stehen, und nie aufhörn hier zu rufen: dieser Lauf ist nicht für Hetzer, nicht für Drängler, nicht für Egomanen. Dieser Lauf, er ist nicht machbar und nicht denkbar, wenn der Atem ist zu kurz. Der Lauf, ich sag's, ist lang noch nicht vorbei.

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Thomas Arzt — geboren 1983 in Schlierbach (Oberösterreich), lebt in Wien. Studium der Theater-, Film- und Medienwissenschaft an der Universität Wien. Schreibt Lyrik, Prosa, Essays, Hörspiele und Theaterstücke.

→ http://www.thomasarzt.at