11. Oktober 2017 — Demokratisierung

Nein. Sie will mit Air Berlin nach Wien fliegen und wählen gehen. Doch sie kann nicht. Sie hat nicht die Wahl.

Hydra steht vorm Flughafen Tegel und liest auf der Fassade des abrissbereiten/nicht abrissbereiten Komplexes folgende Nachricht (mit wie vielen Köpfen, wie vielen Augen?):

MR/S HYDRA HYDRAULIK
KURZE GASSE 88
A-1080 WIEN

Sehr geehrter Fluggast,

leider kann der von Ihnen gebuchte Flug nicht mehr durchgeführt werden. Hierfür bitten wir Sie in aller Form um Entschuldigung.

Wir bedauern, dass wir Ihnen für die gebuchte Verbindung keine passende Alternative anbieten können.

Sofern Sie Ihr Flugticket am oder nach dem 15.08.2017 auf airberlin.com gekauft haben, erhalten Sie …

What the fuck?!, denkt Hydra und beißt sich in den (wievielten?) Arsch dafür, dass sie auf die leicht anklagenden Wahlanalyse-Artikel hörte, die unkten, je mehr Menschen Briefwahl wählten, desto höher sei die Chance für überraschende Ergebnisse. Und nun steht Hydra hier, abseits der Heimat (der wievielten?) und ist mehr als überrascht, noch vor dem Ergebnis, und kann ihre Stimme nicht abgeben. Sie öffnet den Mund, um noch mal laut

WHAT THE FUCK?!

zu schreien – auf die abrissbereite Fassade starrend – doch sie hat ihre Stimme verloren.

Was solls, was wollts?, schreit Hydra mit verlorener Stimme und macht sich auf den Weg zu Fuß in das Land, in dem sie zufällig geboren wurde, ohne es zu wollen, ohne es nicht zu wollen, ohne es abstreifen zu können, das gute Reich, das österliche Reich, das Ostarrichi.

Und schon ist Hydra an der Grenze von Dackelland ins Österreich, und weil sie in die richtige Richtung kriecht, stören die Grenzkontrollinstanzen weder das Kriechen, noch der Rollkoffer [Übergepäck], noch die vielen, vielen Köpfe der Hydra, nein, wenn du in die richtige Richtung gehst, ist es völlig wurscht, ob du des Nachts gern aufs Land herauskommst, um Viehherden zu zerreißen und Felder zu verwüsten.

Und Hydra also ohne großes Aufsehen Richtung Heimatort im Heimatlande – Hast du das wirklich – ?, nein, natürlich habe ich das nicht gesagt, mit der Heimat, geschweige denn gedacht, höchstens gefühlt, in einem meiner Hydraherzen, das immer drückt, wenn jemand in einer anderen Ecke daherwienert, oder dahergrantelt, oder daherflucht. Oder daherrechtet? Ja, das vielleicht auch: und dahermarschiert? Hm naja, das vielleicht auch, aber Heimweh ist eben Heimweh, da kann man nichts machen, und das Gute an so pervertiertem Heimweh ist ja immerhin, dass man sich auch einfach ordentlich selbst auf den Fuß steigen kann und im dergestalten Schmerz die Liebe suchen, die ja immer wehtun muss, zumindest in diesem Fall. Egal.

Hydra steht also vorm Wahllokal und liest auf der Fassade des abrisswürdigen / niemals abrissbereiten Heimathauses folgende Nachrichten (mit mindestens einem Kopf gegen die Wand schlagend, dass der Putz bröckelt und das Heimatgebilde nicht ins Wanken gerät, wie auch):

Sehr geehrter Bürger (meinetwegen Bürgerin),

leider kann die von Ihnen gebuchte Stimmabgabe nicht mehr durchgeführt werden. Hierfür bitten wir Sie in aller Form um Entschuldigung.

Wir bedauern, dass wir Ihnen für die gebuchte Stimmabgabe keine passende Alternative anbieten können.

Sofern Sie Ihren Pass am oder nach dem 15.08.2017 auf airberlin.com gekauft haben, erhalten Sie ...

Nein, das war gelogen, schreit Hydra, Spuren der Verwüstung über Felder ziehend.

Dann endlich [ENDLICH!] hat es Hydra ins Wahllokal geschafft, und vor ihr stehen zwei Buben Mitte zwanzig, einer hat das Lambdazeichen auf seine rechte Nackenhälfte tätowiert, und der eine erzählt, sein Cousin aus dem benachbarten Dackelland sei endlich auch in Bewegung gekommen, nein, sei nun endlich auch in die Bewegung gekommen, und er habe sich in Dackelland den Spaziergängen angeschlossen und den Seminaren in Schnellroda und einer Partei, deren Vorsitzender diese Dackelkrawatte trage, als Zeichen seiner patriotischen Haltung zu Dackelland, und nun hätten dieser Cousin und seine Freunde einen weiteren Weg gefunden, subversiv und unter einer Maske, die mal linken Protest darstellte, und zwar hätten sie einen literarischen Blog eröffnet, mit dem Dackel als Maskottchen, www.arschisundwaldhund.net, #poesiegegenlinks.

Hydra würde jetzt eigentlich gern drüber reden. So ganz sachlich lösungsorientiert Themen verhandeln. Möglichkeiten ausloten. Aber istnichtdrin. Kein Platz auf dem manfrau stehen könnte. Weder im Vorfeld noch im Sonstwofeld. Auf allen Feldern Ebenen et cetera wächstwuchert grüntsogrün: die lang gewachsene mittlerweile ausgewachsene Enttäuschungserfahrung wuchert über den Wahlkabinenrand den Gedankenraum den grünverschimmelten Airberlinticketrand den Insolvenzverfahrenshorizont den Auslandsösterreicher_innenwahlkartenrand nein die Wahlkartenkante – Wir brauchen eine KLARE WAHLKARTENKANTE! – es wuchert aus dem deutschsprachigen Raum in den deutschsprachigen Raum und beyond sowas von beyond gedeihen derweil die kleinen zarten Nationalismuspflänzchen öffnen ihre Knöspchen zur Sonne immer zur Sonne und alles grüntsogrün nein TÜRKIS ist die Farbe der Stunde und über allem schimmernd so ein hoffnungsvolles TÜRKIS aaahh – Wo waren wir stehengeblieben? Sind wir bereits gelandet oder befinden wir uns in dieser perspektivlosen äh schwerelosen Vogelperspektive unteruns türkisblau überuns türkisblau rechtsvonuns türkisblau linksvonuns türkisblau?

Hydra wird Österreich nie verstehen.

Derweil ist Hydra schon ganzwoanders, Hydra steht vorm Österreichpavillon in Venedig auf einer neun Meter hohen Skulptur die einen Lastkraftwagen darstellt, da ist sie also raufgekraxelt die Hydra, hat vorher brav in der Ausstellungsbesucher_innenschlange dafür angestanden, um auf diese LKW-Skulptur, die auf der Nase steht, der Nase des LKWs, also um auf die LKW-Skulptur hochzukraxeln. Und dann steht sie ganz oben und liest das Schild mit der Aufforderung: STILLSTEHEN UND ÜBER DAS MITTELMEER SCHAUEN und da steht sie und schaut und schaut. Aber nicht zu lang, weil da ja noch andere hinter ihr sind und stehen und lesen und schauen wollensollenkönnenmüssen. Und dann kraxelt sie wieder runter und trinkt einen Espresso auf die Kunst, die Moral und die Mittelmeerroute (Heute leider geschlossen) und noch einen und noch einen und

venedig_-820x820-q92
Tourist-Info, Venedig — S. Gugic

Etwas Musik wäre schön: Mutig in die neuen Zeiten / Wos is er denn, wos hat er denn / Frei und gläubig sieh uns schreiten / So wia dei Wasser talwärts rinnt / Wos mocht er denn, wos redt er denn / Fast wia die Tränen von am Kind / Wird a mei Bluat auf amoi / Arbeitsfroh und hoffnungsreich / Short people got no reason / Short people got no reason / Vielgeliebtes Österreich / Vielgeliebtes Österreich / Short people got no reason / to live /

Hydra bringt schon alle Namen durcheinander KurzKernKickl zwischen Frageantwort und Antwortfragespiel jetzt mal alle Befangenheitsvorwürfe ordnen, um sinngemäß zu wissen äh checken, ob aufgrund der Nahe-Verhältnisse oder aus den Geldern der Arbeiterkammer, ob ein Widerspruch sichtbar, wer jetzt jeder_r nichts weiß, wer jetzt welche Dirty-Campaining-Agenden, wer nach wie vor im Kabinett, wer in ZimmerKücheKabintett oder hinter vorgehaltener Hand, wer jetzt wen länger, wer im Gegenzug die Informationen äh Desinformationen äh fiktiven Fakten erhalten, wie es zu erklären sei, dass, und dass das auch, und dass das dass, welches medial bis zu diesem Zeitpunkt, welcher Supergau gewesen sein wird, ob es möglicherweise Kontakte gegeben, welche Rollen näher beleuchtet, welche möglichen weiteren Klagen, welche möglichen weiteren Fragen zwischen whodunnit und whateverworks formulieren wir hierundheute 12 REASONSWHY, nein, 12 FRAGEN von BLAU an ROT und SCHWARZTÜRKIS und an dich und dich und natürlich ganzbesonders auch an DICH ––– Haben Sie noch irgendwelche Fragen?

Und Hydra, während sie sich geistesabwesend durch diverse Dirty-Campaigning-Agenden liest und klickt, oder eher nur klickt und dabei alle Wahlprogramme durcheinanderbringt, hört was, lauscht kurz, da kichert einer, dreht sich um kurz, da steht einer, hält das Hofer-Konterfei in beiden Händen, das immer lächelt, bloß wer mag da jetzt dahinter, hm, und Hydra einen Schritt in Richtung Konterfei, und dann wieder einen Schritt zurück, wie beim Lesen der diversen Wahlprogramme, und will jetzt nach dem Konterfei-Mensch greifen, da kommt schon wieder eine Schmutzkampagne rein.

Achtung! Achtung! Diese Straße ist wegen Murenabgang derzeit nicht befahrbar.

Achtung Achtung! Dieses Land ist wegen Murenabgang derzeit nicht befragbar.

Hydra wird Österreich nie verstehen.

Ja.

Und?

Österreich hat Hydra ja auch nie verstanden.

Aber Österreich ist ja auch nur ein von der Tourismusindustrie am Leben gehaltenes Erholungsgebiet für Menschen aus dem asiatischen, dem europäischen oder dem süddeutschen Raum, die sich gern Schlösser und Schokoladekugeln anschauen, denkt sich Hydra, eine Erfindung, auf die sich Spindoktoren in Wahlkampfzeiten gern setzen, damit ihr Kandidat auch etwas zu sagen hat und so kommt es, dass alle paar Jahre, wenn in Österreich wieder Spindoktoren Neuwahlen ausrufen, wieder eine Nation beschworen wird, wo eigentlich nur ein paar Beisln, Cafés und Skipisten sind, aber gut, auch das gehört zum Mythos, denkt sich Hydra und genehmigt sich einen Eduscho rrröstfrei im Österreichpavillon und denkt sich, ein Latella wär grad gescheiter gewesen.

Im Vorbeigehen schreien drei Italiener, dass unter Berlusconi wenigstens das Fernsehen besser war und Hydra überlegt, wenn das Fernsehen die Showstars in die Politik geholt hat, ist es dann nicht selbstverständlich, dass mit social media die anonymen Wutbürger und Wutmassen wieder in die Mitte kommen? The medium is the message, und auf social media kommen alle endlich global zusammen, um einmal so richtig die Sau rauszulassen.

Hydra hält inne – immer wieder die gleiche Frage: Wenn die ökonomischen Verhältnisse in der Sprache sichtbar werden, wenn der new speech von Spindoktoren, NLP und Vorstellungsgesprächen, wenn all dieser marktliberale Neusprech längst schon in alle Bereiche hineingesickert ist, wieso steigt dann der braune Sumpf aus all diesen Bereichen wieder auf – stellt sich also die Frage, ob nicht der braune Sumpf in all diesen Nischen recht gut und lange überdauert hat und jetzt halt dummerweise der Platz knapp wurde und er wieder nach oben drängen musste. Aber das wäre noch die utopische Geschichte. Die andere Variante geht nämlich so – der Neusprech legt frei, was er eigentlich überblenden und kaschieren möchte. Nie denkt Hydra so gern und lange über Sprache nach wie im Euronight von Venedig nach Wien.

Überhaupt die Sprache, denkt Hydra sich. Über die könnte sie ja wirklich andauernd nachdenken und am meisten wundert sie, dass das nicht schon längst andere gemacht haben. Die Melange aus neoliberalem Neusprech und dem faschistoiden Wutbürgergeschrei, da gibts doch eine ganz klare Verbindung dazwischen, aber immer, wenn man das anspricht, schrecken alle davor zurück und wollen lieber Utopien.

Überhaupt Utopien. Das wollen diese verkappten bürgerlichen Besucher in Venedig doch andauernd, irgendwas Schönes und hören, dass ihre Seelen sauber sind, aber die gibts erstens nicht, denkt sich Hydra und zweitens gibts die einfach nicht.

Überhaupt die Kunst. Die ist ja heute, denkt sich Hydra, nur mehr noch damit beschäftigt leer durchzudrehen und sich selbst zu übertrumpfen. Ein bisschen wie die Weltausstellung in Paris, denkt sich Hydra und fragt sich, ob auch jetzt die Zeiten auf Sturm stehen.

Überhaupt junge weiße Männer. Aber das würde jetzt zu weit führen.

Und überhaupt: Die Sprache junger weißer Männer, denkt Hydra. Aber da kann man ja gleich aus dem Fenster springen, wenn man das weiter führt, nein, wenn man das weiter ausführt. Nein! Wenn man die weiterführt.

Hydra hasst die alte Leier – weil sie immer wieder stimmt.

Und Hydra denkt ans Hofer-Konterfei, das leise singt: Die Gebärmutter ist der Ort mit der höchsten Sterbewahrscheinlichkeit in Österreich.

kurz_-820x820-q92
Türkisschwarzwording, Wien — S. Gugic

Hydra starrt unter Zuhilfenahme ihrer Geschlechtskompetenz, wenn das jetzt unbedingt eine Kompetenz sein muss, na gut, starrt in der Wahlkabine noch einmal ins Wahlprogramm und dessen Umfeld, und liest Zwangsberatungen, verpflichtende Bedenkzeit, liest bitte kein christliches ungeborenes Leben töten, herrje, denkt Hydra, die Angst vor dem Aussterben der christlichen Kernfamilie, nein, die Angst vor der Abschaffung der christlichen Familie, durch die zum Beispiel Kern-Familie, wahlweise auch durch Zuwanderung und dergestalte Frauenentwendung, das ist offensichtlich eine ziemlich große Angst, aber sie ist zu müde, um jetzt einen Chor der Mütter und Nicht-Mütter – weil die Unterscheidung ja in Wirklichkeit auch herzlich wurscht ist – zu entfachen, zu müde und zu leise und zu heiser von der schlechten Air-Berlin-Kabinenluft, und da Hydra leider ihr Vermögen seit einem Vierteljahrhundert in die Pille investiert, für die in diesem schönen Land keine Krankenkasse aufkommt, damit der nationalstolze Nachwuchs nicht ausstirbt, weil sie also demnach kinderlos und pleite ist, ist damit leider alles gesagt bzw. nichts gesagt, denn vom verbleibenden Restgeld kauft sie kein Hustenzuckerl, sondern lutscht weiter an ihren Wörtern herum, die leider keine Worte werden, die Bestand haben. Oder Anstand? Egal. Vom Restgeld geht sie jedenfalls ins Kino, schön das Hirn wegblasen, wie man das halt in Zeiten der Apokalypse so macht, nicht wahr, und dort sieht sie sich die sogenannte heile Welt an, von der sie kein Teil ist.

Zurück zum Heimatfilm: Kaum aus dem Wahllokal herausgekrochen, in der Gewissheit, dass ihre Stimme (oder Stimmen?, wie viele?) sowieso nix mehr ändern wird, stolpert Hydra Hydraulik, die hübsche, die hagere, in das Casting für einen neuen österreichischen Heimatfilm, und, sicher, wenns a paar mehr Pfundl auf die Rippen hättast, würd i di nehman!, sagt die Casterin, die sicher nichts Böses im Sinn hat, aber auch nichts Gutes, und, ja, warum nicht, denkt Hydra, die sich nach dem Wahlergebnis sowieso wieder Bridget-Jones-like im Zimmer einsperren wird, dann wäre der politische Frust wenigstens zu irgendwas gut.

NEIN!

Hydra stolpert gerade noch so aus dem Castingwahn davon und sieht eine Demonstration mit Europaflaggen, die wehen, die vom Wind fast davongezerrt werden und sich dagegen wehren und gegen die Windböen schlagen, schlagen, ein Pulsschlag, ist er das, denkt Hydra, die hoffnungsvolle, der Pulse of Europe?, ja!, nein?, doch!, doch wie war das noch?, wie viele Sterne waren es nun in der Europaflagge?, mehr als einer?, und waren die Sterne blau und der Hintergrund gelb oder andersrum?, und erst, als Hydra sich schon eingereiht hat, eingereiht ist, eingereiht worden ist, fragt sie sich, warum dieser Europa-Enthusiasmus um sie herum gar nicht mehr aussieht, wie der ihr bekannte liberale Universalismus, sondern wie defensiver Provinzialismus.1

Hydra stolpert weiter und sieht schon die ersten Wahlparties, und bei einer sind die Leute schon vor der ersten Hochrechnung besoffen und hissen ein Banner, auf dem steht:

NA SERVAS! HIER GEHT’S ZUR GLOBAL HOUSE WARMING PARTY!
Hydra jetzt eher so herbstlich depressiv im Trenchcoat auf den Straßen und im Kopf schreibt sie ein Drehbuch für einen Film der nie gedreht werden wird, übertitelt:

ÖSTERREICH IM HERBST
oder
ACHTUNDVIERZIG SPINDOKTOREN SIND KEINE REGIERUNG
oder
SEBASTIAN – SCHICKSALSJAHRE EINES PRINZEN

oder

YOU’RE NEXT – AUS DEM LEBEN EINES INNENMINISTERS

oder

FUNNY GAMES – EIN POLITIKBERATER PACKT AUS

oder

HOUSE OF KURZ

oder

KURZE TANNEN – DA WO DIE BURSCHIS SCHLAFEN

oder

STRACHE, DENE, KURZ, KERN, VOSS

oder

WER RECHTER RÜCKT GEWINNT

oder

RECHTS GEWINNT

oder

FUNNY GAMES II: RECHTS GEHT IMMER

oder

ÖSTERREICH – EIN IMAGEFILM FÜR SALZBURG

oder

HELDENPLATZ 3000 (INTERNATIONAL MARKET VERSION)

oder

ANGST ESSEN KLICKZAHLEN AUF

oder

ICH KAUF MIR LIEBER EINEN TIROLERHUT (SOYLENT GREEN IST MENSCHENFLEISCH, SAG ES ALLEN WEITER)

oder

KRAMBAMBULI (IN EINER NEUFASSUNG VON H. P. KICKL)

oder

DIE BITTEREN TRÄNEN DER PETRA VON STENZEL

Aber der Tagtraum wird unterbrochen von einem Spindoktor, der ums Eck linst und sich freut, weil die demokratische Ordnung jetzt dermaßen zerstört ist, dass nur er und seine Kameraden (!) sich jetzt darum kümmern können, die demokratische Ordnung wieder aufzubauen; er sieht schon die nächste Wahl kommen, und überlegt sich schon die nächsten Slogans:

RUHE TUT NOT

oder

JETZT FÜR UNS

oder

FÜR UNS ALLE

oder

WEILS JETZT PASST

oder

JETZT ODER SO

oder

AUF JEDEN FALL JETZT

oder

ER FÜR UNS

oder

SICHERHEIT STATT WAHNSINN

oder

HEIMAT STATT STEUERZUCKERLN

oder

HEIMAT FÜR ALLE (HASS FÜR DIE WELT)

oder

HASS IST NICHT GUT UNBEDINGT ABER MANCHMAL MUSS MAN SICH ALS DER HARTE MANN DARSTELLEN IN EINEM WAHLKAMPF DAS ZIEHT IMMER

oder

WEIL WIR ALLE EINE HEIMAT HABEN WOLLEN WIEDER UND ZWAR JETZT BITTE

oder

VATERLAND VATERLAND VATERLAND VATERLAND!!!

oder

VATER VATER VATER LAND

oder

ÜBER ALLEN WIPFELN BITTE RUH

oder

ICH FÜR EUCH

oder

IHR FÜR MICH

oder

IHR ALLE HINTER MIR

oder

ICH VOR EUCH VORNE DRAN

oder

SCHENKT MIR EUER VOLK

oder

ALLE MIR NACH

oder

AUF ZUM ATEM

oder

AUF ZUM ATOM

oder

ALLE MIR NACH BASTI FANTASTI LEADS THE WAY

oder

ICH UND ALLE MACHEN MEHR

oder

ALLE UND ICH SIND MEHR

oder

ALLE

oder

ALLES

oder einfach
ICH
oder
ICH

oder

ICH

oder

ICH

oder

ICH

oder

ICH

Um sich zu sammeln, geht Hydra laufen. Raus auf die Donauinsel, denn dort hat sie immer das Gefühl, sich nicht zu vereinzeln, sondern in einem Zusammenhang zu leben, denn dort fließt die Donau. Und die Donau fließt doch immerhin von Zentraleuropa bis raus ins Schwarze Meer, ist also der Arm nach Osten. Und die Donau lässt sich auch, über Kanäle, bis an die Nordsee hochfahren. Ein gutes Gefühl also, denkt Hydra, nicht isoliert zu sein, in diesem Land. Nicht isoliert zu sein, bei dieser Wahl. Das macht ihr Mut. Überall, auch hier, in Österreich, können Impulse von außen aufgenommen werden. Überall, auch hier in Österreich, können Signale nach außen getragen werden. Und Hydra, im Laufen, sieht den Donauturm und mit wie vielen Armen und wie vielen Beinen und wie vielen Köpfen auch immer klettert sie hoch, überblickt die Stadt, überblickt das Land und schreit: WÄHLT DEN ZUSAMMENHANG, NICHT DIE ISOLATION!

Am Rückweg in die Stadt stolpert Hydra über Stolpersteine, die an Verbrechen der Vergangenheit erinnern, punktuell am Ort des Stolpersteins, und kontextuell im Raum dazwischen, so man sie noch sieht, die Stolpersteine, denn die Gegenwart überzieht sie permanent mit Staub und Schmutz. In Zeiten von Dirty Campaigning ist da ganz viel neuer Schmutz, sodass keiner mehr Genaues sieht, am Boden der Tatsachen. Hydra schnappt sich also Wasser, Seife und Bürste, schrubbt Schmutz und Lügen ab und klärt den Blick auf Gegenwart wie auf Vergangenheit. Dann blickt sie, punktuell zufrieden, auf den Kontext dieser Wahl und ruft: JEDE WAHL DER GEGENWART IST AUCH DIE WAHL EINER GESCHICHTE. AUCH PARTEIEN TRAGEN GESCHICHTE IN SICH. MÖGEN SIE NOCH SO NEU DAHERKOMMEN.

Hydra startet eine Wahlumfrage und mit tausend repräsentativen Köpfen befragt sie tausend Passantinnen und Passanten und formt daraus eine repräsentative Aussage und trägt sie nach außen. Aber das repräsentativ Ausgesagte hilft ihr nicht weiter, denn sie hat ganz vergessen, in der Repräsentation nach Außen, sich selbst zu befragen. Sie geht also in sich, lässt die Prognosen links und rechts liegen, setzt sich mit Papier und Bleistift in ein Café, trinkt Espresso, und schreibt Wort für Wort auf, was sie privat vertritt und politisch vertretbar findet und welche politischen Vertreterinnen und Vertreter auch für ihre Anliegen eintreten, und das ergibt ein ganz schönes Durcheinander, und es ergibt ein viel verworreneres Bild, als es die Umfragen geliefert hatten, und am Ende ist das Blatt Papier zu klein, da schreibt sie also den Caféhaustisch voll, und Anliegen um Anliegen findet nun Platz, im Café, das sie zum öffentlichen Ort erklärt, und sie schreibt nun auf den Tisch neben ihr, und da sieht sie: auch andere im Raum haben begonnen, ihre Anliegen aufzuschreiben, und das ganze Café beginnt, sich von innen heraus zu äußern. Und in diesem schönen Durcheinander treten die Anliegen nun in Widerstreit, und Tisch um Tisch erkennt einige Anliegen unter den vielen als wesentlich, und das Wesentliche im Widerstreit steht nun groß an den Wänden des Cafés und wer auch immer nun in den letzten Tagen vor der Wahl hier hereintritt, ist aufgefordert, sich den eigenen und anderen Anliegen zu stellen, und Hydra grinst derweil, mit vielköpfigem Augenzwinkern, und ruft: DAS ENDE DER PROGNOSE IST DER ANFANG DER EIGENEN WAHL.


  1. Ivan Krastev, Europadämmerung, Suhrkamp 2017, S. 71