Ich möchte mich endlich zum Unschuldigen äußern

Ein Gastbeitrag von Raphaela Edelbauer
14. Juni 2017 — Land/Stadt

Die Aborigines sprechen von der Traumzeit: einer ewigen Schöpfungsgegenwart, in der wir über die Landschaft und ihre Formen mit unseren Ahnen verbunden sind. An diesem raum- und zeitlosen Ort, an dem Urmythen so unmittelbar, so real sind wie wir hier in unserer Welt, leben und wirken die Vorfahren also fort. Das sind auf der einen Seite unsere realen Ahnen – all die Tausendschaften an verstorbenen, in endlosen Ketten aneinandergeborenen Anverwandten bis zum Beginn der Zeit. Aber es sind auch unsere Ahnen im übertragenen Sinne – fleischgewordene Prinzipien einer Volksidentität, die laufen und handeln lernen.
Alles was diese, unsere Vor- und Wiedergänger, in der Traumzeit tun, wirkt sich auf unsere Welt aus: Die Landschaft wirft sich dort in Falten und Gebirgszüge, wo es Streit gab, oder schmilzt zu Quellmündungen ein, wo in der Traumzeit jemand erschlagen wurde. Aber es geht auch umgekehrt: Wo wir einen Schacht in den Berg stemmen, verändern wir die Verhältnisse in der Traumzeit, wo wir den Fluss zähmen, bringen wir die Ahnen gegeneinander auf. Wo wir einen Mord begehen, verändern sich die metaphysischen Bedingungen dieser Berge und Täler, wir formulieren uns selbst als Ahnen in die gesprächigen Landzungen hinein, deren Sermon wir gerade noch zu ignorieren suchten.

Jede Landschaft ist also Dokumentation eines Gewaltaktes sowie jener Volksidentität, die ihn beging.

Ich möchte mich endlich zum Unschuldigen äußern, beispielsweise zu diesem Land, das an so vielen Orten genügsam und bescheiden herumliegt, unter anderem in Kärnten oder Tirol, in Vorarlberg, wo es hinüber nach Baden-Württemberg oder Bayern sich lehnt – Orte, an denen es sich ebenso heimisch fühlt, wie bei uns. Wobei: Bei uns, das ist dasselbe wie dieses Land. Diese Berge, diese Seen, Wiesen, Lüfte sowie alle Tiere, die sie bewohnen, sind wahrhaft rein – und nicht nur, weil ihre Bewohner sie so gewissenhaft putzen, weil sie von sehr sauberen Völkern bewohnt werden. Nein: Die Natur selbst hat etwas so Argloses an sich. Sie kann ja gar nichts tun, als sie selbst zu sein, das ist – na eben ihre Natur!

Ich möchte mich also zum Unschuldigen äußern: Zu Trachten und Oktoberfesten beispielsweise, denen man wirklich überhaupt nichts vorwerfen kann, denn sie kleiden nur den Leib ein, der sich in rechtmäßiger Versunkenheit der heimatlichen Brutpflege widmet. Und dass eine Druckwelle von verhaltenem Patriotismus sie begleitet, ist billig und recht, denn die Tracht an sich hat noch keinem Gewalt angetan! Sogar in Wien haben wir nun seit sechs Jahren eine sogenannte Wiesn, die mittlerweile dermaßen expandiert, dass 300.000 gesottene Leiber sich abends über den Bierbänken zur Anfeuchtung aufhängen. Das sind doch bitte nicht alles Rechte! Mit Gaudi an 18 Tagen Feierlaune wirbt die Homepage, die uns nebenbei eine Trachtenbilanz von 95 % verspricht. Viele viele Unschuldige haben also ihre gleichermaßen unschuldige Herkunft wiedergefunden. Die entschlüpft einem ja gern einmal und wird durch etwas, im schlimmsten Falle Angloamerikanisches, ersetzt. Dirndln und Krachlederne sind also freigesprochen von jeglichem Argwohn!

Jede Landschaft ist also Dokumentation eines Gewaltaktes sowie jener Volksidentität, die ihn beging.

Ich kann mich also jetzt endlich, wenigstens ein einziges Mal, zum Unschuldigen äußern. Zum Heimatfilm und dem Lob der landwirtschaftlichen Einfachheit, das er anstimmt unter anderem, oder zu all jenen Hörbigers, Mosers, riefengestählten Naturburschen im Karlheinz Böhmerwald. Die waren schauspielerisch nicht alle schlecht! Die kann sich auch durchaus ein junger Mensch einmal anschauen (der Landschaft wegen), wenn der Tatort Sommerpause macht! Man muss nicht alles überinterpretieren, manchmal steht die Pfarrersköchin auch nur für die Pfarrersköchin, der Deutsche Schäferhund nur für den Deutschen Schäferhund.
Auftritt Richter, Plädoyer, Verkündung, 50 Jahre auf Bewährung, passt! Der Heimatfilm hat sich bewährt, wir Nachgeborenen müssen ihm wenigstens das lassen.

Die Aborigines sprechen von der Traumzeit, einem Gedächtnis für unsere Taten, das die Landschaft selbst entwickelt. Aber die Aborigines sind eben auch Wilde, die, anders als der hart arbeitende Europäer, den ganzen Tag Zeit haben, um Sachen in der Gegend dort herumzuinterpretieren, wo gar nichts ist. Unsere Berge hingegen haben einen reinen Leumund! Kein Wunder, dass so viele in dieses Land hineinwollen. Nur wären sie alle hier, wäre es eben auch nicht mehr so rein!

Ich kann mich also zum ersten Mal ausführlich der Unschuldsvermutung widmen: Der Schönheit der heimischen Flora und Fauna, dem Säuseln der auf- und abziehenden Gestirne, dem Halm, der sich traulich dem Acker zuneigt.
Den Wadeln, die gewichst am Felde stehen oder in vollmotorischer Bewegtheit in die Alpen getragen werden, weil man auch gerne einmal Urlaub in Österreich machen kann, das ist ja wohl nichts Verwerfliches? Zum Gipfel emporklettern auf einwandfrei gepflegten Steigen, auf einer frisch verankerten Leiterkultur.
Die wundersame Bewegung der Wandervögel, die sogenannte Wandervogelbewegung, die uns überhaupt erst das Völkische an der Lagerfeuerromantik enthüllt. Denn Naturschutz bleibt Artenschutz und Artenschutz ist letztlich Rassenschutz, und Rassenschutz ist somit auch nichts anderes als z. B. gegen Atomkraft sein, also bitte! Quod erat demonstrandum, die Kosten trägt der Kläger.

Deswegen widmen wir uns endlich dem Unschuldigen, denn wir haben uns so viele mühsame Jahre lang, begonnen in der Schule, der Schuld widmen müssen und haben berechtigten Hunger auf etwas Schönes, Echtes, Authentisches, Einfaches, Ursprüngliches, Natürliches, Faires, Gebratenes, Leuchtendes, in eine Kardinalsschnitte Hineingestopftes. Auf etwas, das man sich an einen Filzhut stecken kann. Auf etwas, das mit echter Freude von der Blasmusik gespielt wird.
Sagen wir: auf einen Nationalstolz, der sich endlich (Zitat) wieder entwickeln darf (Zitat), nachdem man so lange nicht sagen konnte, dass man stolz ist auf seine Herkunft (Zitat), zumindest bis zur WM 2006 (Zitat). Und so ein Patriotismus, der ist ja was ganz Kleines, Liebes, ein Zimmerpflänzchen, was ganz Intimes! Das Skirennenschauen mit der Familie, wo man seine Österreicher anfeuert oder die Gemütlichkeit des Heurigens, wenn man in den Sommerferien einmal unter sich war. Burschige Traditionen, schweißnasse Maibaumkletterer. Der Mensch braucht eine Heimat, es haben doch so viele eine! Jetzt darf man sich langsam wieder bekennen.
Holen wir uns einen Strafregisterauszug dieses warmen Gefühls in der Brust, zack, wumm, blü-ten-rein!

Zum Gipfel emporklettern auf einwandfrei gepflegten Steigen, auf einer frisch verankerten Leiterkultur.

Wir können uns also endlich wieder getrost zum sogenannten Autochthonen hin neigen, denn, wie man es dreht und wendet, es hat niemandem etwas getan. Es könnte jedem rechtsstaatlichen Strafverfahren standhalten, es ist ja nicht einmal satisfaktionsfähig! So viele Völker dürfen so viele Heimaten behalten, warum also nicht wir? Weswegen dürfen sich junge Intellektuelle dann nicht die Krachlederne an den Hintern spannen und vernünftige, studierte Menschen denn nicht Gabaliers Gassenhauer verbreiten? Eben! Die sind ja harmlos! Warum nicht „I am from Austria“ singen, ein schönes Lied, das keinen würgt. Und überhaupt ist die Swastika ja ursprünglich ein indisches Glückssymbol, nein, das nehme ich zurück, mann muss es ja nicht übertreiben, aber: Auch das Verbotsgesetz steht ja in den letzten Jahren durchaus wieder in Frage, und wieso auch nicht, wenn die Hand zum Gruße zu erheben für sich genommen ja gar nicht schlimm ist? Auch jemand, der aus dem obersten Regal eine Packung Mehl nimmt, hebt sie durchaus in ähnlicher Weise! Die natürlichste aller Gesten!

Also zurück zum Ursprung! Und nichts soll von diesem Heimgang ausgeschlossen sein, der sich mitten auf Acker und Scholle, auf Blut und Boden ereignet.
Blut – ein ganz normales Wort – und Boden – noch ein ganz normales Wort! Und wir werden uns freudig gegenseitig mit Lokalkolorit bepinseln. Bittesehr! Wenn wir unser Zentrum endlich wieder mitten unter uns haben und gemeinsam an den Brathuhnspießen der Wiesn rotieren, dann tropft es eben aus den Mündern, manchmal ein bisschen heiß und fettig, das will nichts bedeuten, auch wenn sich mancher daran die Finger verbrennt. Es ist halt so köstlich! Einfach löschen mit diesen Fruchtwasserabsonderungen der Heimat, die uns hervorgebracht, uns zu uns gemacht hat. Wir sind wir: Eine schunkelnde, selig zitternde, einfältig-urwüchsige Masse von Unschuldigen, die nie von etwas wissen wird, und so redet, wie ihnen der Mund gewachsen ist. Jaja, uns gibt’’’’’’’’’’’’’ es nur einmal!
Dann möge uns eben verschlingen, das Traumzeitland, mit all seiner Schönheit und Fruchtbarkeit, unsäglicher Fruchtbarkeit, man könnte ihm fast ein Mutterverdienstkreuz umhängen. Mutter, Verdienst, Kreuz, genau so gemeint, wie es gesagt ist, nur keine Politik hineininterpretieren! Also, wir lassen uns gerne in einen Abgrund einsaugen, aber bitte den Prinz Eugen-Marsch muss es bei der Beerdigung spielen, immerhin das, denn so leicht geben wir dann doch nicht auf! Die Aborigines sprechen von der Traumzeit als einer ewigen Schöpfungsgegenwart des Landes, und recht soll es uns sein, denn ein Menschenschlag, der von einem so schönen Land ausgeboren wurde, kann zu Hässlichem nicht fähig sein.

Wir dürfen mit unseren Sonntagsgefühlen halt nicht so genau sein: Unsere rezente Tradition und Herkunft ist vielleicht nicht das Ländliche allein, sondern ein stinkender Abgrund. Aber einen stinkenden Abgrund kann man natürlich schlecht auf einen Lebkuchen mit der Aufschrift „I mog di“ drucken, das müssen sogar wir zugeben. Deswegen äußere ich mich lieber zum Unschuldigen.


Raphaela Edelbauer — geboren 1990 in Wien, lebt und arbeitet ebendort. Studium der Sprachkunst an der Universität für Angewandte Kunst Wien. Schreibt Prosa, Essays und Texte für zeitgenössische Musik. Veröffentlichungen in Literaturzeitschriften, 2017 Debüt Entdecker bei Klever. Momentan Stipendiatin des Deutschen Literaturfonds.