In your face, spätherbstlichneonationalistischer Depressionszusammenhang!

23. November 2016 — rechtsterror

Im Herbst fallen die Blätter von den Bäumen und die Neuroleptika aus der Schachtel, denkt sich ein Chor, der sich gewaltig wundert, während er in seinen Rechner schaut. Andauernd denkt man im Leben über zwei Dinge nach, über die Liebe und den Faschismus. Jetzt schon wieder, denkt sich der Chor. Schon wieder Liebe und Faschismus. Als gäbs nichts sonst im Leben. Und der Chor will nicht über diese beiden Dinge gleichzeitig nachdenken, wirklich nicht, aber immer wenn er an den Faschismus denkt, denkt er an die Liebe und umgekehrt und hat dann immer das Gefühl, als hätte er das alles kommen sehen, was jetzt passiert, oder auch nicht, das ist immer schwierig, mit der Zukunft. Nicht nur das mit der Liebe und dem Faschismus, nein, auch das mit der Zukunft ist im Prinzip richtig beschissen. Andauernd denkt sich der Chor, er handelt im Sinne der Zukunft und am Ende steht er, der Chor, dann doch wieder da zwischen den Leichenbergen, denkt über die Liebe und den Faschismus nach und stellt fest, dass er doch wieder gar nichts gelernt hat.

Aus der Geschichte hat überhaupt noch niemand irgendwas gelernt. Nicht über Liebe, nicht über Faschismus. Chöre erinnern sich zwar an die letzte Woche, aber mit der letzten Legislaturperiode wird es schon eher schwierig, ganz zu schweigen vom übervorletzten Jahrzehnt, das ist für so einen Chor meist weit weg, ganz zu schweigen von den Zusammenhängen eines halben Jahrhunderts, und selbst wenn, denkt sich der Chor, selbst wenn so ein Chor zumindest einmal die Zusammenhänge des letzten Vierteljahrhunderts begreifen könnte, was noch realistisch wäre, würde das noch lange nicht bedeuten, dass er, als Chor, verstehen würde, was das für übermorgen oder die nächste Woche oder das nächste Jahr bedeutet. Also was das letzte Stück Vierteljahrhundert Geschichte für das gerade aktuelle Stück Gegenwart des Chors bedeutet, das kann der Chor einfach nicht verstehen: das Ganze! Denkt er sich, schaut vom Rechner weg auf den Boden und sammelt die Neuroleptika ein, die aus der Schachtel gefallen sind.

Immer sieht der Chor nur Stücke, Trümmer, Vierteljahrhunderte maximal, aber als Chor muss man doch einen Überblick über die gesamte Geschichte haben, denkt er sich, sonst endet am Ende alles gleich, mit Trümmern, Leichenbergen und er, der Chor, sitzt wieder da, zwischen den Bergen und den Körpern und denkt über die Liebe und den Faschismus nach. Da kann er noch so sehr versuchen, wie er das eh immer tut, die Geschichtsbücher zu wälzen, die alten Whatsapp Nachrichten rauf und runter zu scrollen, die Emails nochmal zu lesen, die er an andere Chöre geschrieben hat, voll mit Gedichten, die Geschichte, die Liebe, den Faschismus und die Zukunft versteht der Chor einfach nicht. Vielleicht sind das die wichtigsten Dinge im Leben, aber vielleicht ist der Chor nicht für die wichtigsten Dinge im Leben gemacht. Vor allem nicht für den Faschismus, denkt sich der Chor. Für den Faschismus ist man als Chor gemacht oder nicht. Und eigentlich versteht er nicht, wie man für den Faschismus gemacht sein kann. Da fängt es ja schon an. Wieso kann der Faschismus überhaupt in die Körper und die Köpfe hineinkriechen, fragt sich der Chor. Wieso sind Menschen für den Faschismus gemacht? Das sind doch nicht alles nur Protestwähler. Denen ist doch klar, was sie da wählen - aber sie tun es trotzdem, denkt sich der Chor. Wir wissen ganz genau, was passiert, aber wir tun es trotzdem. Das war doch einmal die Chiffre für die spätmoderne Ironie.

Aber noch bevor er den Faschismus und die Ironie fertig zusammengedacht hat, um endlich zu verstehen, woher der scheißspätmoderne Faschismus denn jetzt eigentlich kommt, denkt der Chor über die Liebe nach. Er liebt immer, wie das als Chor so üblich ist, in alle Richtungen, weibliche Chöre, männliche Chöre, Chöre ohne definierbares Geschlecht, gemischte Chöre, ältere und jüngere Chöre, Chöre aus anderen Kulturen, griechische zum Beispiel, Chöre, die nicht den tradierten, chorischen Schönheitsidealen entsprechen, bunte Chöre, ArbeiterInnenchöre, Flüchtlingschöre, Mittelinkswählerchöre, Mitterechtswählerchöre, wenn sie zumindest mit sich reden lassen, demokratieverdrossene Chöre, revolutionäre Chöre, singende Chöre, flüsternde Chöre, schweigende Chöre, Sportchöre, auch Nicht-Chöre findet der Chor auf ihre Art sexy, aber das hat ihm schon oft Ärger eingebracht, dass er all diese vielen, vielen Chöre liebt, und auch das ist natürlich eigentlich, denkt er sich, der Chor, ein Problem der Geschichte, sprich, würde er, der Chor, sich einmal konzentriert mit der Geschichte seiner Liebe zu all den anderen Chören auseinandersetzen, würde er darin vielleicht ein Muster, ein sogenanntes pattern erkennen, also irgendeinen Sinn in der Geschichte seiner Liebe erkennen aus dem heraus der Unsinn seiner Gefühle resultiert. So wie im plötzlich zurückgekehrten spätmodernen Faschismus doch auch ein Muster zu erkennen sein muss, ein sinnvolles, das den Unsinn erklärt, der hier schon wieder stattfindet. Oder in der Geschichte ein Muster sich eingeschlichen haben muss, das dem Chor erklären kann, wieso diese Frischbeflaggten genau jetzt, genau hier schon wieder marschieren. Aber da hilft einem kein B.A., kein M.A., kein PhD in Humanity, denkt sich der Chor im Spätherbst Zweitausendsechzehn. Andauernd denkt man über die Liebe und den Faschismus nach und dann stirbt man.

Dann zündet sich der Chor eine Schachtel Zigaretten an, während die letzten Blätter fallen und der Martin von den Identitären, der mit dem Undercut, der immer so schwiegermuttergeil schaut, am Berliner Hauptbahnhof mit einer gelben Fahne herumwedelt und währenddessen in die Kameras hinein sagt, dass die Patrioten heute hier spazierenmarschieren wollen. Und hinter dem Martin mit dem historisch bewussten Undercut, dem schwiegermuttergeilen, im jährlich erschütternden Herbstregen stehen sie ganz zufällig an diesem Tag, die Patrioten, historisch bewusst kahlrasiert in Bomberjacken mit Reichsadlersticker und wollen für die Vergessenen sprechen und halten ihre Patriotenfahnen hoch in die Luft am fünften November Zweitausendsechzehn, zufällig auf den Tag genau 93 Jahre nach dem Scheunenviertelpogrom, aber der Martin von den Identitären sagt, sie wollen nur zufällig genau heute, genau hier spazierenmarschieren gehen, durchs Scheunenviertel, vorbei an der Neuen Synagoge, an der wollen sie auch eher zufällig vorbeispazierenmarschieren, und selbst die Flaggen, sagt der Martin von den Identitären jetzt charmant lachend, haben sie nur zufällig in der Hand.

Und nur zufällig schreit einer jetzt ins Mikrofon, ein Lutz, oder ein wasweißderChorwiederhierheißt, schreit, lasst uns marschieren. Und der Chor denkt sich, die Geschichte schon wieder - diesmal die falsch herum erzählte, diesmal die schlecht erzählte, die ständig richtungslos vor sich hin eiernde, die nicht zur Ruhe kommende, die schon wieder hier und jetzt vorübereiert, Schlag auf Schlag auf Schlag auf Schlag, während man danebensteht, hier und jetzt an einem vorüberschießt, frisch beflaggt, mit neuen Stiefeln, die über altes Pflaster jetzt marschieren, hier und jetzt an einem vorübermarschiert, neue Hymnen, alte Lügen, neue Chöre, alte Wünsche, neue Parolen, alter Inhalt, während der Chor danebensteht, staunend, der Mund offen, weil die Geschichte einfach nicht zur Ruhe kommen will. Bleib doch einfach stehen, will ihr der Chor zuschreien, aber schon kommt einem so ein Schlagstock entgegen und die Geschichte macht einfach weiter.

Und der Chor denkt sich es muss doch ein pattern in der Geschichte aufzufinden sein, so wie in Krebszellen, oder in Virenstämmen, so muss doch auch in der Geschichte sich eine Wucherung abzeichnen, die sich analysieren lässt, die ein für allemal erklärt, woher der Faschismus kommt, aber das verrät die Geschichte nicht. Die Geschichte hinterlässt kaum Spuren, oder zumindest keine, denen man mit voller Gewissheit folgen könnte. Die Geschichte ist eine einzige große Spur aus Liebe und Faschismus, denkt sich der Chor und zündet sich wieder eine Schachtel Zigaretten an, weil wer raucht, kaltblütig aussieht und der kaltblütige Chor steht jetzt frierend im Regen im Scheunenviertel und sieht, wie einige sich der Geschichte in den Weg stellen, ihr einen anderen Weg zeigen, den alten blockieren, dieser einen Geschichte das Pflaster unter den Füßen also weg hier zu ziehen, ihren Spuren gefolgt sind, um sie genau hier abzufangen. Aber wenn die Geschichte einmal ins Rollen kommt, dann rollt die ohne zu bremsen über all die Körper hinweg.

Ununterbrochen schiebt die Geschichte ihr utopisches Kapital vor sich her, denkt sich der Chor und erschlägt dabei immer alles vor sich, walzt alles nieder mit ihrem utopischen Kapital und hinter sich einher zieht sie utopisch leuchtend Reste, Trümmer, Schuldberge, Schulden sowieso, wohin das Auge reicht. Die werden weitergereicht, von Körper zu Körper, von Zeit zu Zeit. Überhaupt die Zeit, denkt sich der Chor, wenn ich jetzt auch noch anfange über die Zeit nachzudenken, dann reichen mir die Neuroleptika nicht mehr für diesen Winter. Also zurück zur Geschichte, die mit ihrem utopischen Kapital, das sie vor sich herschiebt, immer alles dem Erdboden gleichmacht, Körper zerquetscht, über sie hinweg marschiertspaziert und am Ende sind da wieder nur Spuren, wo einmal eine Geschichte war, am Ende sind da wieder nur Erinnerungen an das ganze utopische Kapital, das die Geschichte um die Erde herumschiebt, all das utopische Kapital, unter dem die Körper begraben werden, andauernd, und am Ende wieder nur all die Spuren, die da zurückbleiben, all die Fährten, die zurückbleiben von den Körpern, die vom utopischen Kapital der Geschichte planiert werden.

Und der Chor sieht, wie jetzt wieder für die Geschichte Platz gemacht wird, wie hundertfünfzig Patrioten der Weg vorbei an der Synagoge geprügelt wird, der Chor sieht, wie die einen Chöre über die anderen Chöre herfallen und er sieht das Logo von der Volksbank Ecke Friedrichstraße und wie ein Sanitäter von Schlagstöcken hinweggescheucht wird von einer Blutlache oder wars nur der Schatten von einem Schäferhund, der vor der Neuen Synagoge steht und Menschenketten anbellt, die die Geschichte nicht vergessen haben, oder zumindest die letzten hundert Jahre noch im Kopf haben, was man von dem Schlagbestockten jetzt nicht sagen kann, der da nichts kennt, der da jetzt in diese Menschenketten hinein mit dem Schlagstock eilt im Auftrag einer Geschichte, als deren Spur, als deren Fährte, als deren Gefährte, haut der Schlagbestockte jetzt in die Menschenkette hinein, damit der Martin von den Identitären seinen historisch korrekten Spaziermarsch durchs Scheunenviertel fortsetzen kann, zusammen mit dem Paul von der Bürgerinitiative „wir lieben Thüringen“, mit dem der Martin gerade ein historisch bewusstes Bier trinkt, bis die historisch falsch platzierten Menschenketten den Weg aller Geschichten gegangen sind, ins Reich der Vergessenen, weil die schlagbestockten Gefährten der Geschichte letztlich nun einmal das politisch korrekte Versammlungsrecht am Ende über das historisch korrekte Bewusstsein stellen muss, das wissen auch der Martin und der Paul, die grinsen historisch korrekt unter ihrem historisch bewussten undercut heraus, während die Geschichte von dem Schlagbestockten wiederholt wird, durchgesetzt wird durch die Körper, die kaltblütig rauchend unterm Schlagstock Widerstand leisten gegen das Vergessen.

Beziehungsweise, denkt sich der Chor, ist das historische Bewusstsein am Ende eh schon wieder nur eine Spur im Antlitz der Geschichte, eine ganz frisch vernarbte, und wer für die verantwortlich ist, für diese frisch vernarbte Spur im Antlitz der Geschichte, das scheint vor allem im Spätherbst Zweitausendsechzehn nicht mehr sicher und der Martin von den Identitären und der Paul von der Bürgerinitiative „wir lieben Thüringen“ stoßen an und der Schlagstock stoßt auch an die Körper an, die vom utopischen Kapital der Geschichte niedermarschiertspaziert werden im Auftrag des Versammlungsrechts, das zur Not auch gegen die Geschichte hindurch gestoßen werden muss für die historisch korrekten Reichsadlerfahnenschwinger, Deutschlandliedträllernden, Meinungsbefreiten und NLPelzträger, die ihre Masken langsam ablegen, Zeit wirds schreien sie, lasst uns spazierenmarschieren, und der Chor stoßt am Bildschirm an und erschrickt und schmeißt erschüttert ein Neuroleptika und im Spätherbst fallen die Blätter vom Baum, die Neuroleptika fliegen aus der Schachtel, rollen unter den Schreibtisch und wirbeln den Staub auf.

Im Herbstlaub zwischen den Neuroleptika auf den Spuren der Geschichte — Thomas Köck

Thomas Köck — geboren 1986 in Oberösterreich, arbeitet als Autor und Theatermacher. Studierte Philosophie in Wien und an der FU Berlin sowie Szenisches Schreiben an der UdK Berlin. Mit einem Dokumentarfilmprojekt über den libanesischen Bürgerkrieg eingeladen zu Berlinale TALENTS sowie nominiert für den Filmförderpreis der Bosch Stiftung. Konzipierte Lese- und Veranstaltungsreihen in Wien, Berlin und Mannheim. War Hausautor am Nationaltheater Mannheim und erhielt u.a. den Else-Lasker-Schüler-Preis, den Dramatikpreis der österreichischen Theaterallianz oder zuletzt den Kleist-Förderpreis.

→ http://www.suhrkamp.de/autoren/thomas_koeck_14263.html