04. Januar 2017 — Demokratisierung

In den ersten Jahrzehnten meines Lebens nahm ich an, die Dinge würden sich automatisch zum Besseren entwickeln, ich entwickelte mich schließlich auch in eine Richtung (das Erwachsenendasein), von der ich hoffte, sie sei besser, nämlich freier als das Kindsein. Man hörte von Aufschwung und Wirtschaftswachstum, von Protesten, die Startbahnen und Atomkraftwerke verhindern sollten, und die Verhinderung gelang sogar gelegentlich. Diktaturen gingen zu Ende, manche zumindest und manchmal auch unblutig wie in Spanien oder der DDR, anderswo, wie in Rumänien, durchaus gewaltsam, der eiserne Vorhang fiel, nach dem EU-Beitritt Österreichs fielen die Grenzkontrollen, Gesetzgebungen berücksichtigten auf einmal wenigstens theoretisch die Gleichberechtigung von Frauen und Männern, es gab sogar so etwas wie Homosexuellenehen – ich sah das als eine irgendwie naturgegebene Entwicklung an, die sich von der Aufklärung bis heute – mit apokalyptischen Zwischenstationen, zugegeben – immer weiter entrollte. Das war naiv. Unsäglich.

Wir befanden uns nicht nur in einer Nachkriegszeit, was ja als Behauptung eine Sache mit einem absonderlichen Absolutheitsanspruch wäre, eine, die für immer gelten müsste. Wir befanden und befinden uns eben auch in einer Zwischenkriegszeit, jede Nachkriegszeit war schließlich immer schon eine Vorkriegszeit im Verlauf der menschlichen Geschichte, und den Slogan vom angeblichen Ende derselben hielt ich mit jugendlicher Arroganz schon in den Neunzehnneunzigern für sagenhaft dumm. Für mindestens ebenso dumm wie die Vorstellung, dass die Wirtschaft ewig wachsen könne und Geld arbeite. Geld arbeitet nicht, es sind immer Menschen, die für das Geld arbeiten, und je mehr Interest Rate am Ende rauskommen soll, desto weniger kriegen die Menschen, die am Beginn der Wertschöpfungskette stehen. Auch dieser Zusammenhang wurde zu lang negiert in den zunächst von der Globalisierung profitierenden Staaten des sogenannten Westens – mit dem Resultat, dass die westlichen Gesellschaften nicht nur die sie eigentlich erst ermöglichenden Jobs großzügig auslagerten sowie, konsequenterweise, auch die Steuereinnahmen (zur Erinnerung: there’s no such thing as society, sagte Margaret Thatcher 1987 am Höhepunkt der Liberalisierungs- und Privatisierungswelle). Mehr noch, „uns“ als Teil von dem, was von diesen westlichen Gesellschaften übrigblieb, holt nun auch der Preis für die billig und durchaus billigend in Kauf genommene Ausbeutung andernorts in Form von Rückforderungen ihrem Elend entfliehender Menschen ein.

Diese Zwischenkriegszeit, in der wir uns so häuslich eingerichtet hatten, könnte sich also langsam ihrem Ende zuneigen. Ist schon vielen Menschen zuvor passiert. Dann kommen mal wieder Hetze, Zerstörung, Vernichtung, Faustrecht, nicht selten als so etwas wie ein Gewitter herbeigehofft von manchen der Betroffenen – vorher. Manchmal scheint es so, als vergäßen Menschen regelmäßig, was ein Krieg konkret bedeutet, und dächten, sie könnten diesen neuen jetzt aber wirklich irgendwie für ihre Zwecke kanalisieren.

Was kann man tun? Nun: da Politik zunächst einmal über Sprache läuft, die Sprache unter die Lupe nehmen, Wörter genauer betrachten, die im politischen Diskurs derzeit hoch im Kurs stehen.

Es ließe sich etwa das beliebte Argument hinterfragen, jemand sei demokratiemüde. Müde durch die oder in der Demokratie. Was, bitte, soll das denn heißen? Was würde denn weniger ermüden? Die Diktatur vielleicht?

Glaubt irgendwer von denen, die starke Männer wählen, die gerne von sich behaupten, außerhalb des Systems zu stehen, die mit ihrem Publikum gerne auf Du und Du wären und gleich versprechen, in unserem Sinn zu entscheiden – nur wer sind WIR und woher kennen die, die sich auf den Plakaten so zutraulich präsentieren, unseren Sinn? und was heißt schon, in diesem zu entscheiden? – glaubt irgendwer, es sei angenehmer, mal eben mit Berufsverbot belegt oder ins Gefängnis verfrachtet zu werden, von Schlimmerem ganz zu schweigen, weil man etwas wollte, was der starke Mann eben nicht für in unserem Sinn gehalten hat? Glaubt irgendjemand wirklich, wenn schon, dann würde der Zorn des nunmehr Höchsten immer nur die anderen treffen, die Nachbarn, die Fremden, nie den eigenen Sohn oder die Schwester, die Mutter eines Freundes? Glaubt irgendjemand wirklich, so vom Grund der eigenen Unsicherheit auf, dieser einmal erkorene Politiker, der einfach mal so richtig durchgreift, sei immer desselben Sinnes wie man selbst? Und könne sich folglich auch nicht gegen einen oder eine selbst wenden? Scheint es so undenkbar, dass der Durchgriff auf die Durchgriffheischenden selbst erfolgt?

Vermuten diejenigen, die sich so sehr nach dem Durchgreifen sehnen, es sei besser, nur einmal zu entscheiden, indem man den einen Menschen (gar nicht um den heißen Brei herumgeredet: diesen einen Mann) wählt, den man dafür für den geeigneten hält, und dann, falls man sich geirrt hat, einfach den Mund zu halten und zuzusehen, wie das eigene demokratische Recht zunehmend eingeschränkt wird – ja, auch das Recht, auf die Straße oder den nächsten öffentlichen Platz zu gehen und gegen wen oder was auch immer, gegen die da oben, die Aufnahme von Flüchtlingen, das Gendern, die Gleichstellung nichtheteronormativer Beziehungen, überhaupt diese ganze Rücksichtnahme auf angebliche Minderheiten, Steuern, Handelsabkommen, die Autobahnmaut oder Katzenfotos zu protestieren? Letztere stauben dem Endgerät der Wahl ja auch wirklich langsam bei den digitalen Ohren raus.

Das Wesen der Demokratie ist doch: man kann sich verwählen, man kann sich irren als Wähler, als Wählerin, und man geht davon aus, dass ein solcher Fehler auch wieder korrigierbar ist. Bei der nächsten Wahl. Dies geht aber nur, so lange es noch eine funktionierende Demokratie gibt, mit Gewaltenteilung, einem handlungsfähigen Verfassungsgerichtshof, einer unabhängigen Justiz. Und wie fragil ein solches Demokratiekonstrukt ist, wie jung auch in der Geschichte, wie schnell man also diese demokratische Staatsform an den Fundamenten ansägen und anschließend durch Druck von oben zerstören kann, wird der staunenden Weltöffentlichkeit gerade vorgeführt von den Erdogans, Putins, Orbans, der PiS und so weiter. Den designierten Präsidenten Trump hat man ja noch nicht in Ausübung seines Amtes erleben dürfen.

Was man tun kann: sich der Qualitäten der in der Demokratie (also vom geschmähten System) garantierten Auseinandersetzungsmöglichkeiten versichern und darüber reden, gerade auch mit jenen, die an deren Wert zweifeln. Sich mit Einwänden auseinander- und Argumente entgegensetzen. Aufmerksam sein, wenn wesentliche Elemente des Rechtsstaats – wie etwa konkret in Polen, im Dezember 2016, ein unabhängiger Verfassungsgerichtshof – frontal angegriffen werden. Das Problem klar benennen, in diesem Fall: Aushöhlung der rechtstaatlichen Verankerung der Gewaltenteilung. Die Konsequenzen aufzeigen: Ohne Verfassungsgericht keine Anrufung desselben durch den einzelnen Bürger oder die einzelne Bürgerin. Ohne Beachtung seiner Spruchpraxis kein Korrektiv zu Legislative und Exekutive, und ja, auch, zu einem Gerichtsurteil, das gegen verfassungsmäßig garantierte Rechte verstößt. Zuhören, nachdenken und nochmals reden.

Diskutieren, argumentieren, Ansichten auch gegebenenfalls dank besserer Argumente der anderen Seite revidieren, all das ist mühsam. Demokratie ist anstrengend, und, ja, Anstrengung kann ermüden. Reden fordert und fordert heraus, doch es ist das einzige, das meines Erachtens dem manifest drohenden Zerfall zivilisatorischer Übereinkünfte entgegen wirken kann, mittelfristig und nachhaltig.


Olga Flor — geboren 1968 in Wien, aufgewachsen in Wien, Köln und Graz. Sie studierte Physik und arbeitete im Multimedia-Bereich. Seit 2004 freie Schriftstellerin. Romane, Kurzprosa, Essays, Theater – und Musiktheaterarbeiten. Sie erhielt unter anderem den Anton-Wildgans-Preis 2012, den Outstanding Artist Award 2012 und den Veza-Canetti-Preis 2014. Nominierungen für den deutschen Buchpreis und den Alfred-Döblin-Preis. Zuletzt erschienen: 2015, Roman Ich in Gelb bei Jung und Jung; 2018, Essayband Politik der Emotion bei Residenz